Spiritualität für das 21. Jahrhundert

Freestyle Religion

von Uwe Habenicht
min
11.04.2023
In den Büros der reformierten Kirchgemeinden stapeln sich die Austritterklärungen. Allein im Jahr 2021 sind über 28 000 Kirchenmitglieder aus der reformierten Kirche in der Schweiz ausgetreten. So viele wie noch nie. Ein Blick auf die Zahlen ist also mehr als ernüchternd.

Uwe Habnicht ist reformierter Pfarrer und Buchautor. Folgende Bücher sind erschienen:

  • Freestyle Religion. Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert (2020)
  • Draussen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur (2022)

Uwe Habenicht bietet vom 23. bis 25. Juni im Kloster Kappel einen Kurs zur Entdeckung der eigenen Spiritualität an: www.klosterkappel.ch

Die Kirchen stehen vor einem grundlegenden Wandel, allein schon aus ökonomischen Gründen. Was diese Zahlen allerdings nicht zeigen, ist die steigende Bedeutung, die gerade den Kirchen in der Zukunft zukommen wird, obwohl sie immer kleiner werden.

Gesellschaftlich stehen wir vor grossen, fast übergrossen, Herausforderungen wie dem Klimawandel, Demokratieverlust, Vereinsamung und Vereinzelung, um nur einige wenige zu nennen. Diese anstehenden Herausforderungen lassen sich auf der individuellen Ebene allein mit Fahrradfahren und Bio-Gemüse nicht lösen. Sogar die Politik erscheint zunehmend machtlos. Was wir brauchen, ist ein Umdenken auf allen erdenklichen Ebenen: kulturell, wirtschaftlich, sozial und eben auch spirituell. Nur gemeinsam und gemeinschaftlich lassen sich die drängenden Zukunftsfragen bearbeiten und lösen. Viel zu lange meinten wir, wir könnten persönlich und individuell etwas bewegen und verändern. Doch zunehmend wird deutlich, dass wir als einzelne damit überlastet und überfordert sind. Wir brauchen starke Institutionen, die uns als Einzelne und Familien entlasten und dabei helfen, neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenwirkens zu entwickeln. Allein ein Blick auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in unserem Land zeigt, wie sehr wir uns mit unserem individuell verengten Blick überfordern. Unsere Kinder und Jugendlichen sind so etwas wie ein Gradmesser für das Funktionieren einer Gesellschaft. Eine gerade erschienene Studie von Unicef zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz und Liechtenstein nennt erschreckende Befunde: Ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen ist von psychischen Störungen betroffen. Jeder elfte Jugendliche hat schon versucht, sich das Leben zu nehmen.

Wir zerstören nicht nur systematisch unsere natürliche Lebensgrundlage, sondern auch unsere eigene Gesundheit und die unserer Kinder.

„Freestyle Religon“ habe ich das Modell einer Spiritualität für das 21. Jahrhundert genannt, in der Individuelles und Gemeinschaftliches gleichermassen Raum haben. Wir und unsere Kinder brauchen Räume und Zeiten, in denen sich eine eigene Spiritualität mit ihren entlastenden Ritualen entwickeln kann. Uns tut es gut, wenn wir erleben können, dass nicht alles von uns abhängt und dass wir auch dann noch wertvoll sind, wenn wir nichts leisten. Zudem braucht es das gemeinsame und gemeinschaftliche Zusammenkommen, Feiern, Musizieren und Singen. Dabei muss nicht alles meinem Geschmack entsprechen. Wichtig ist, dass gemeinsam gefeiert werden kann. Und schliesslich, das ist der dritte Bereich, können wir gemeinsam handeln und Gutes bewirken, das weit über unsere Kräfte hinausgeht.

Nur wenn das Nachdenken und Beten, das gemeinschaftliche Feiern und das Tun miteinander verbunden sind, werden wir die Kräfte entwickeln, die wir für die Zukunft brauchen. Und wo, wenn nicht in den Kirchen, könnte eine solche Kultur des Miteinander ihren Ort haben? Ein Ort, an dem das Individuelle und das Gemeinschaftliche, das Feiern und das Handeln, das Spirituelle und das Öffentliche sich gegenseitig befruchten. Nicht immer und nicht überall, sind die Kirchen schon solche Orte. Aber sie können es werden. Sind Sie bereit, daran mitzuwirken? Und die Kirche zu einem Ort des Wandels zu machen?

Hartmut Rosa jedenfalls, der derzeit wohl bekannteste Gesellschaftsforscher, ist sich sicher: «Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!» 

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