Nimm dir die Zeit?
Zeit für ein Geständnis: In diesem Jahr habe ich mal eine Kolumne für ein Magazin nicht selbst geschrieben, sondern durch eine KI schreiben lassen. Nein, natürlich nicht im «Kirchenboten», da hätte ich ethische Bedenken. Schliesslich bin ich dank den «Kirchenboten»-Gastbeitragshonoraren inzwischen Multimillionär. Sondern für ein Blättchen, das
a) niemand liest und
b) kein Honorar zahlt und
c) hat mich das Auftragsthema nicht gross interessiert.
Die Kolumne der KI war nicht schlecht, nichts offensichtlich Falsches darin. Aber auch nicht wirklich gut und schon gar nicht originell. Also habe ich sie noch gekürzt und zwei, drei äusserst lebendige und wahrheitsnahe Beispiele eingebaut. Dieser Text hat mir Hunderte von begeisterten Reaktionen eingebracht.
Das ist natürlich ein Witz, ich habe noch nie irgendeine Reaktion erhalten von Lesenden dieses Magazins. Wahrscheinlich wird es nur von anderen gelangweilten künstlichen Intelligenzen gelesen, die das dann wiederum anderswo auf Anfrage wiederkäuen. Dann «promptet» jemand eine ähnliche Frage und alles wiederholt sich, von Ewigkeit zu Ewigkeit dasselbe.
Nun kannst du über KI oder lernende Maschinen sagen, was du willst, sie sparen uns Zeit. Die Frage ist nur: Was mache ich mit der gewonnenen Zeit? Seit Beginn der industriellen Revolution gewinnen wir immer mehr Zeit. Wir sind immer schneller, aber gleich lange unterwegs, weil wir längere Arbeitswege haben. Manche stehen täglich länger im Stau, als sie für Essen und Hygiene brauchen.
Während meine Urgrosseltern die Wäsche noch aufwendig im Dorfbrunnen wuschen, spült unsere Waschmaschine in 47 verschiedenen Schongängen. Oder wir scrollen im Internet durch Social Media, die nie aufhören, unsere Aufmerksamkeitssucht erregend zu besetzen.
Ich gehöre zur Generation, die am TV noch den «Sendeschluss» erlebte, mit Hymne und Testbild. Der Informationsgehalt des Testbilds war nur marginal niedriger als die meisten Beiträge in Social Media.
Was also machen wir mit unserer gewonnenen Zeit? Zu den besten Dingen, für die ich mich manchmal entscheide, gehört das Velofahren. Ohne Ziel und ohne Plan, Noch besser sind nur Spaziergänge oder ein Kaffee mit einem Menschen, dem ich begegnen will. Fast alles Entscheidende in meinem Leben hat mit einem Moment alleine unterwegs oder in einer Begegnung angefangen. Oder mit einem Spiel. Vielleicht lasse ich die KI öfter für mich arbeiten und gehe mit meinen Enkeln Fussball spielen.
Martin Dürr, inzwischen pensionierter Pfarrer, leitete zuletzt das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft in Basel-Stadt und Baselland. Neben seinem «Enkeldienstag» engagiert er sich unter anderem für die Wibrandis-Stiftung im Gemeindehaus Oekolampad.
Nimm dir die Zeit?