Website «Gesichter der Erinnerung»

«Meine Akte war immer schon vor mir da»

von Adriana Di Cesare-Schneider
min
10.05.2023
Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen tragen schwer an dem Unrecht, das ihnen angetan wurde. Bei der Aufarbeitung sind Staat und Kirchen in der Pflicht, findet Markus Plüss, der Betroffene begleitet. Eine multimediale Plattform soll die Schicksale nun sichtbarer machen.

Es ist noch nicht lange her. Bis zum Jahr 1981 wurden in der Schweiz Kinder fremdplatziert. Behörden entschieden ohne Gerichtsurteil, wer seine Kinder behalten durfte und wer nicht. Kinder und Jugendliche wurden als Arbeitskräfte auf Bauernhöfe verdingt, in Pflegefamilien gegeben, in Heime gesteckt und hinter Anstaltsmauern weggeschlossen. Betroffen sind bis heute mehrere 100’000 Menschen, viele von ihnen erlitten Gewalt und Missbrauch.

Lange Jahre blieb dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte unter Verschluss.  Heute anerkennt der Bund das geschehene Unrecht, und Betroffene haben Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag. Doch das Geschehene lässt sich nicht rückgängig machen. Und die traumatischen Erfahrungen, die viele erlitten haben, wirken ein Leben lang nach – bis heute.

 

Anstaltsland Schweiz

Vor diesem Hintergrund haben Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gemeinsam mit Historikerinnen und Historikern die multimediale Plattform «Gesichter der Erinnerung» geschaffen. Mitglieder des Projektteams stellten sie in der Schaffhauser Rathauslaube vor. 32 Betroffene erzählen ihre Schicksale in Videosequenzen. Die Erfahrungsberichte sind nach Stichworten wie Platzlosigkeit, Entwurzelung und Einsamkeit, Gewalt und Missbrauch, Autoritäten oder Alltagsregime geordnet. «Das sind Themen, die in den Berichten eine wichtige Rolle spielen», erklärte Loretta Seglias, Historikerin und Teil des Projekt-Teams. «Wir möchten, dass mehr darüber gesprochen wird, was in unserer Gesellschaft geschah, ohne dass jemand eingriff.

Wir haben eine Statistik über die Anzahl Ziegen in der Schweiz, aber keine über die Anzahl der Fremdplatzierungen.

Die Historikerin Verena Rothenbühler, die den Abend moderierte, betonte: «Hunderte Institutionen waren beteiligt, die Schweiz war ein Anstaltsland. Wir haben eine Statistik darüber, wie viele Ziegen es in der Schweiz gibt, aber hinsichtlich der Fremdplatzierungen gibt es keine Statistik, und sie kann auch nicht rekonstruiert werden.» Um das ungeheuerliche Ausmass der Geschehnisse zu erfassen, müsse man Betroffenen zuhören, die bereit seien, ihre Geschichte zu erzählen.

 

«Gesichter der Erinnerung» beleuchtet ein wichtiges Stück Schweizer Sozialgeschichte, das bis heute nachwirkt: fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Mehrere 100'000 Menschen sind davon betroffen. 32 von ihnen sprechen über ihre Erfahrungen und geben der Geschichte ein Gesicht.

 

Unvorbereitet versorgt

Eine davon ist Karin Gurtner, die unter anderem im «Töchterinstitut Steig» aufwuchs. Sie schilderte dem Publikum, wie sie unter dem bösartigen Regime der Küchenchefin litt, die Kinder anschrie, schlug und hungern liess. Im Quartier waren die Heimkinder stigmatisiert, wurden gehänselt und ausgegrenzt.

Jeder Straftäter weiss, wann er aus dem Gefängnis kommt. Ich wusste das nicht.

Das Schlimmste aber sei gewesen, dass kein Kind gewusst habe, warum es von zu Hause wegmusste oder wieso es von einem Heim ins nächste abgeschoben wurde. Karin Gurtner erlebte das mehrfach. Sie wurde willkürlich in mehrere Heime, ins Gefängnis und in die Psychiatrie eingewiesen. «Ich war überall von Anfang an abgestempelt, meine Akte war immer schon vor mir da.» Sie wusste auch nie, wie lange sie an einem Ort bleiben musste. «Jeder Straftäter weiss, wann er aus dem Gefängnis kommt. Ich wusste das nicht.»

Marlies Birchler wurde als Kind ebenfalls fremdplatziert. Für das Projekt «Gesichter der Erinnerung» begleitete sie Mitbetroffene vor die Videokamera. «Alle erzählten, dass sie ohne Erklärung von zu Hause weggeholt oder umplatziert wurden. Wir alle waren vollkommen unvorbereitet auf das, was mit uns geschah.» Birchler weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig die Aufarbeitung ist. «Damit man das Erlebte verarbeiten kann, muss man darüber sprechen können und gehört werden.»

 

Weitere Unterstützung nötig

Dies bestätigt Markus Plüss, der als Vertrauensperson im Auftrag des Kantons Schaffhausen Menschen begleitet, die Gesuche für den Solidaritätsbeitrag beim Bund bereits eingereicht haben. Bisher sind im Kanton Schaffhausen bereits rund 120 Anträge gestellt worden. «Mich bewegt, wie viel Leid mit den Zwangsmassnahmen verursacht wurde, und trotzdem erlebe ich die Opfer heute als sehr liebenswert, würdevoll und ehrlich.» Doch viele leben in prekären Verhältnissen und sind schwer traumatisiert. «Deshalb klären wir ab, wie die Betroffenen im Leben stehen und wie sie weiter unterstützt werden könnten.» Der Kanton hat mit einer öffentlichen Entschuldigung, mit einer Skulptur zum Gedenken an die Opfer im Rauschengutpark und mit dem Auftrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas erste Schritte getan. Die Arbeit wurde als Band des Historischen Vereins «Versorgt. 59 Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Kanton Schaffhausen» von Marlon Rusch verfasst.

 

Kirchen als Akteure beteiligt

Doch auch die Landeskirchen seien aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten. «Nicht verschweigen möchte ich, dass Institutionen der Landeskirchen damals ebenfalls als Akteure in Erscheinung traten und somit beteiligt waren am Unrecht, das den Opfern zugefügt wurde. Ich denke, es braucht hier ein Zeichen im Hinblick auf die Aufarbeitung», so Markus Plüss.

Wo waren wir als Kirche, als diese Kinder unsere Aufmerksamkeit gebraucht hätten?

Die Schaffhauser Kirchenrätin Cornelia Busenhart zeigte sich betroffen: «Ich frage mich: Wo waren wir als Kirchenleitung und kirchliche Mitarbeitenden, als diese Kinder unsere Aufmerksamkeit gebraucht hätten? Haben wir weggeschaut oder den Institutionen blind vertraut? Sind uns diese Kinder im Religionsunterricht nicht aufgefallen?» Für Cornelia Busenhart ist klar: «Als Kirchenleitung müssen wir uns dieser Aufarbeitung stellen. Das bedeutet, behutsam zuhören, Menschen ernst nehmen und grosszügig reagieren gegenüber Emotionen und Klagen der Betroffenen.»

 

 

Runder Tisch

Am 1. Juli findet in den Räumen der Schaffhauser Zwinglikirche um 13 Uhr ein erster runder Tisch für Betroffene und Angehörige statt. Eine Anmeldung ist nicht nötig.

 

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