«Es fehlt die verlässliche Beziehung»

von Katharina Meier
min
23.10.2023
Dem «Eintrittsbillett» für Kinder und Jugendlichen ins Kinder-Dörfli im toggenburgischen Lütisburg-Station liegen immer schulische Probleme zugrunde. «Doch zu 90 Prozent sind die wahren Ursachen im Elternhaus zu suchen», sagt der Gesamtleiter der Institution, Urs Gasser.

Der erzieherische Rahmen kann nicht mehr eingehalten werden. «Als Mutter oder Vater will man Kumpel, bester Freund sein. Doch Erziehung hat etwas mit Forderung zu tun, mit Grenzensetzen.» Diese fehlen oft, die Eltern haben nichts (mehr) zu sagen. Die Kinder schwänzen die Schule, kommen nach Hause, wann sie wollen, kiffen möglicherweise, bestimmen, welche Markenschuhe sie tragen, welches Handy sie wollen, sagen, wofür das Geld ausgegeben wird. Parallel dazu fällt die Leistung in der Schule ab. Man stört den Unterricht, besucht ihn sporadisch, treibt sich herum. Lange versuchen Vater oder Mutter, Alleinerziehende, den Schein zu wahren. Die Gespräche mit der Lehrerin fruchten nichts, vielmehr wird die Klasse, das Schulhaus, der Wohnort gewechselt und gesagt, es liege an den Pädagogen. Eine Abklärung des Kindes wird verweigert. Im Innersten spüren die Eltern: «Hier läuft einiges aus dem Ruder.» Das Eingeständnis aber, dass sie Unterstützung brauchen, kommt oft spät.

Normal begabte Kinder

Es gelte daher, die Eltern ins Boot zu holen. Die Einweisung ins Internat folgt dann aber immer über die Schulgemeinde, nachdem die Kinder und Jugendlichen Abklärungen wie den schulpsychologischen Dienst durchlaufen und heilpädagogische Massnahmen und Klassenassistenz nicht gegriffen haben. «Wenn ich jeweils die Berichte lese», so der Kinder-Dörfli-Gesamtleiter Urs Gasser, «stelle ich fest, dass die meisten Kinder normal begabt sind, auch Maturaniveau aufweisen.» 

Die Kinder sind Fachleute für Beziehungsabbrüche.

Derzeit leben 60 Kinder und Jugendliche in sieben Wohngruppen im Kinder-Dörfli und besuchen die Schule. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist kurz, manche hauen ab, sind verhaltensauffällig. Und so wie ihre Eltern glauben auch sie, total versagt zu haben. «Es ist in der Tat die schärfste Massnahme für Kinder und Jugendliche im Kanton St. Gallen, es gibt nachher nichts anderes mehr», so Gasser, der seit 2015 das Heim leitet. Und es ist Knochenarbeit für die Fachkräfte (275 Stellenprozente und ein Praktikant). Sie versuchen tagtäglich, für die Knaben und Mädchen eine verlässliche Beziehungsperson zu sein. «Nicht aufgeben ist unsere Aufgabe!» Denn Kinder seien Fachleute für Beziehungsabbrüche. Positive Gefühle hielten sie kaum aus und sie sagten sich, es könne doch nicht sein, dass sie etwas gut könnten. Die Misserfolge haben sie über Jahre geprägt, ein Lob ist suspekt und wird postwendend mit Störung des Unterrichts, Schikanierung der Lehrperson, Ausfälligkeiten oder Verweigerung quittiert. Es wird die Bestätigung gesucht, dass sie nichts wert seien. 

«Es ist für uns alle das Höchste, wenn wir ein Kind wieder in die Regelklasse an seinem Wohnort integrieren können», sagt Urs Gasser, Gesamtleiter des Kinder-Dörfli in Lütisburg-Station (SG). Foto: meka

Lange Durststrecke 

Es ist für die Kinder wie Jugendlichen, die Lehrkräfte, aber auch für die Eltern eine lange Durststrecke. Die «schweren Jungs und Mädchen» stehen alle zwei Tage im Büro des Gesamtleiters. Es wird geredet, so wie es auch mit den Eltern getan wird. Externe Fachpersonen stehen bereit, sodass der Weg zur Integration wohl fast zwei Jahre dauert, aber immer mehr mit kleinen und grösseren Erfolgen gesät ist: ein Wochenende ohne Absturz, ein schöner Ausflug mit den Eltern, eine bessere schulische Leistung, mehr Selbstvertrauen, weniger Hilflosigkeit. «Es ist für uns alle das Höchste, wenn wir ein Kind wieder in die Regelklasse an seinem Wohnort integrieren können.» Das kommt selten vor. Doch wenn Gasser am Ende der Schulzeit sieht, dass alle eine Lehrstelle gefunden haben oder eine Anschlusslösung, wenn sie freiwillig zu ihren Bezugspersonen zurückkommen, dann hat sich der Einsatz gelohnt.

«Wir sind Teil der Lösung»

Gasser wünscht sich deshalb, dass das Kinder-Dörfli als Chance und Teil der Lösung gesehen wird und nicht als Abstellgleis. Auch wäre es leichter für alle, würden die Schulgemeinden früher eingreifen. Sorgen bereitet dem Leiter, dass die Kinder immer jünger werden, psychisch krank sind, sich schneiden, auch wenn mittlerweile eine Intensivwohngruppe eingerichtet wurde. Der Fachkräftemangel drücke ebenfalls und der Kanton halte die Schule in einem engen finanziellen Korsett. Nichtsdestotrotz: «Jedes Kind, das nicht hier ist, ist ein gutes Zeichen.

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