Nichts ist so, wie es scheint

Das Mantra der "gestohlenen Wahl"

von Prof. Michael Butter, Uni Tübingen
min
01.03.2024
Verschwörungstheorien sind nicht erst seit der Pandemie in aller Munde. Die einen verbreiten sie; die anderen fürchten sie; die Medien berichten über sie. Mitunter entsteht dabei der Eindruck, wir lebten in einem Zeitalter der Verschwörungstheorien und diese wären seit einigen Jahren verbreiteter und einflussreicher als jemals zuvor.

Verschwörungstheorien behaupten, dass eine im Geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, einen systematischen Plan verfolgen, um ein für die Allgemeinheit schädliches Ziel zu erreichen. Generell gehen Verschwörungstheorien von drei Grundannahmen aus: nichts geschieht durch Zufall; nichts ist so, wie es scheint; und alles ist miteinander verbunden. Verschwörungstheorien sind somit von einem in der Gegenwart beinahe romantisch anmutenden Welt- und Menschenbild gekennzeichnet. Sie basieren auf der Idee, dass Meschen ihre Absichten in kleinen Gruppen über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg in die Tat umsetzen können.

Wann wird der Impfgegner zum Verschwörungstheoretiker?

Es ist wichtig, Verschwörungstheorien möglichst genau zu definieren, da der Begriff manchmal recht nachlässig verwendet wird. So ist nicht jeder Impfgegner ein Verschwörungstheoretiker; das wird er erst dann, wenn er behauptet, dass es geheime Absprachen gebe, um die schädlichen Effekte des Impfens geheim zu halten, oder die Regierung durch Impfungen gar die Bevölkerung kontrollieren wolle. Auch Selbstverwalter und Staatsverweigerer, welche die Autorität des Staates ablehnen, sind nicht automatisch Verschwörungstheoretiker. Die deutschen Reichsbürger dagegen fallen eindeutig in diese Kategorie, weil sie denken, dass sie systematisch über die Existenz der Bunderepublik Deutschland getäuscht würden.

Die Annahme, dass alles geplant werde, widerspricht den Überzeugungen der modernen Sozialwissenschaften, die Chaos, Zufall und strukturelle Faktoren betonen. Daher werden Verschwörungstheorien trotz ihrer beträchtlichen Anhängerschaft vom wissenschaftlichen Diskurs und der Allgemeinheit nicht ernst genommen oder gar mit Sorge betrachtet. Wer sie formuliert, muss damit rechnen, aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und eventuell sogar sozial geächtet zu werden. Ein prominentes Beispiel ist der Historiker Daniele Ganser, dessen wissenschaftliche Karriere endete, als er begann, Verschwörungstheorien zu bedienen.

Bildung ist der Schlüssel, um Verschwörungstheorien gesellschaftlich effektiv zu begegnen.

Von der Mitte an den Rand der Gesellschaft

Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein jedoch waren Verschwörungstheorien in Europa und Nordamerika vollkommen akzeptiert und daher auch viel verbreiteter als heute. Erst in den späten 1950er Jahren wanderten sie aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder. Der Begriff «Verschwörungstheoretiker» wurde zu einem Schimpfwort. Die Popularität von Verschwörungstheorien nahm dadurch signifikant ab, verschwand aber nicht völlig. Verschwörungstheorien wanderten aus der Öffentlichkeit in Subkulturen ab. Dort entwickelten sich schließlich, vor allem durch den Einfluss des Internets, zu veritablen Gegenöffentlichkeiten mit eigenen Mediensystemen und Experten.

Innerhalb dieser Gegenöffentlichkeiten werden Verschwörungstheorien wieder als legitimes Wissen akzeptiert. Ihre neue Sichtbarkeit führt dazu, dass erneut mehr Menschen an sie glauben. Studien zeigen, dass gängige Verschwörungstheorien in Deutschland bei knapp einem Viertel der Bevölkerung auf Resonanz stoßen. In den USA sind Verschwörungstheorien noch verbreiteter. Die Republikaner haben unter der Führung Donald Trumps die Verschwörungstheorie der «gestohlenen Wahl» zum Mantra erhoben, das von den ihnen nahestehenden Medien bedient und von einem Großteil ihrer Anhänger geglaubt wird.

Erkennen, wie die Welt wirklich funktioniert

Die Popularität von Verschwörungstheorien liegt darin begründet, dass diese wichtige sinnstiftende Funktionen für die Identität derjenigen erfüllen, die an sie glauben. Sie schließen Zufall und Ungewissheit aus und betonen menschliche Handlungsmacht. Und gerade in Zeiten, in denen es (noch) nicht (wieder) normal ist, an Verschwörungstheorien zu glauben, ermöglichen sie es ihren Anhängern, sich von der Masse der Menschen abzusetzen, können sie doch für sich in Anspruch nehmen, aufgewacht zu sein und erkannt zu haben, wie die Welt wirklich funktioniert. So erklärt sich auch, warum Verschwörungstheoretiker, wie empirische Studien zeigen, noch stärker an diese Theorien glauben, nachdem man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert: Weil ihre Identität dadurch in Frage gestellt wird, setzt ein Abwehrmechanismus ein.

Die Neigung zu Verschwörungstheorien nimmt ab, wenn Menschen frühzeitig über deren Struktur und Rhetorik aufgeklärt werden.

Katalysator für Radikalisierung

Nicht alle Verschwörungstheorien sind problematisch und schon gar nicht alle Menschen, die an sie glauben. Aber Verschwörungstheorien können Katalysatoren für Radikalisierung sein und die Gewaltbereitschaft erhöhen. Da sie eine bestimmte Gruppe identifizieren, die für alles Böse verantwortlich gemacht wird, können sich diejenigen, die an diese Verschwörungstheorien glauben, berechtigt oder unter Umständen sogar verpflichtet fühlen, gegen diese Gruppe, ihre Einrichtungen oder ihre Vertreter mit Gewalt vorzugehen. In dieser Hinsicht sind besonders jene Verschwörungstheorien problematisch, die sich ganz oder teilweise gegen ohnehin schon stigmatisierte Gruppen wie Muslime und Juden richten.

Verschwörungstheorien können eine Gefahr für das demokratische Miteinander werden, wenn sie behaupten, dass das politische System heillos korrumpiert sei. Wer denkt, dass Politiker nur Theater spielen und alle von denselben Hintermännern kontrolliert werden, hat letztendlich nur zwei Optionen. Entweder beteiligt man sich nicht mehr am demokratischen Prozess, wodurch das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit und somit einer der wichtigsten Motoren für den Glauben an Verschwörungstheorien noch verstärkt wird. Oder man unterstützt diejenigen populistischen Parteien, die sich seit einigen Jahren auf der ganzen Welt als wahre Alternative zu einem verrotteten politischen System präsentieren, zur Lösung der wichtigsten gesellschaftlichen Probleme aber wenig bis gar nichts beitragen.

Verschwörungstheorien ernst nehmen

Bildung ist der Schlüssel, um Verschwörungstheorien gesellschaftlich effektiv zu begegnen. Zum einen sinkt die Neigung zu solchen Theorien mit steigendem Bildungsgrad. Zum anderen nimmt die Neigung zu Verschwörungstheorien ab, wenn Menschen frühzeitig über deren Struktur und Rhetorik aufgeklärt werden. Die Wirksamkeit solcher «Impfungen» ist bisher nur für die Aufklärung über spezifische Verschwörungstheorien empirisch getestet worden. Es ist jedoch zu vermuten, dass allgemeine Aufklärung darüber, wie man Verschwörungstheorien erkennt und wie diese typischerweise argumentieren, eine ähnliche Wirkung entfaltet. Sinnvoll wäre dies beispielsweise im Rahmen einer speziellen Unterrichtseinheit an weiterführenden Schulen. Neben aktuellen Verschwörungstheorien, an denen sich die Dringlichkeit des Themas zeigt, bieten sich besonders historische Fallbeispiele zur Analyse an, weil Schülerinnen und Schüler diesen meist ohne vorgefertigte Meinung und somit offener begegnen.

Ganz generell gilt aber: Man muss Verschwörungstheorien ernst nehmen, weil sie problematische Folgen haben können; man sollte aber auch differenzieren und nicht in vorschnelle Panik oder Alarmismus verfallen.

Prof. Dr. Michael Butter | Foto: Uni Tübingen, Berthold Steinhilber

Michael Butter ist Professor für Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er leitet ein vom Europäischen Forschungsrat gefördertes Projekt zum Zusammenhang von Populismus und Verschwörungstheorien. Sein Buch «Nichts ist, wie es scheint»: Über Verschwörungstheorien erschien 2018 bei Suhrkamp und wurde ins Englische, Polnische und Portugiesische übersetzt. 2012 wurde er mit dem Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.

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