Qualität verliert sich nicht

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21.09.2020
Das Kirchenlied machte einen Siegeszug durch die Jahrhunderte – Kommt nun der Abgesang? Nein, sagt ein Liedliebhaber.

Sonntag für Sonntag lassen wir in unseren Kirchen Lieder ertönen, die mehrere Hundert Jahre alt sind. Das alleine ist eine Erfolgsgeschichte erster Güte. Das Erfolgsrezept liegt im Zusammenspiel von tiefgehenden religiösen Texten und einprägsamen Melodieschöpfungen. 

Meine Liebe zu den alten Kirchenliedern begann in der 5. Klasse. Das war 1970. Ich besuchte damals regelmässig Schülergottesdienste in einer schönen gotischen Stadtkirche mit einer mächtigen Orgel. Die alten Kirchenlieder, die uns der Pfarrer ohne schlechtes Gewissen gegenüber der modernen Zeit singen liess, prägten sich mir tief ein. 

Französischer Springtanz
«Die güldne Sonne» (RG 571 von 1666) konnte ich auswendig. Als ich 2016 eine mehrtägige Wanderung im Bündnerland machte, kamen Textfetzen dieses Liedes in mir hoch, und ich versuchte hartnäckig, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. In der ersten reformierten Kirche, an der ich vorbeikam, prüfte ich mein Erinnerungsvermögen am Gesangbuch nach. Die ersten vier Strophen waren noch vollständig vorhanden. Seither singe ich es oft bei meinen Wanderungen. Mein zweites Lieblingslied aus der Zeit des Schülergottesdienstes ist «In dir ist Freude» (RG 652 von 1592). Kürzlich erfuhr ich von unserem Kirchenchordirigenten, dass diese beiden Lieder «Gaillarden» seien. Das ist ein fröhlicher, französischer Springtanz aus der Renaissancezeit. Ich pflege also nun seit 50 Jahren eine Vorliebe für Gaillarden und wusste es nicht.

«Schon Luther schaute beim Komponieren dem Volk aufs Maul. Seine Lieder waren Gassenhauer.»

Schon Martin Luther, nicht nur Reformator, sondern auch Liederdichter und Komponist, unterlegte seine Lieddichtungen mit volkstümlichen Melodien. Wie beim Übersetzen der Bibel ins Deutsche, so schaute er auch beim Komponieren dem Volk aufs Maul. Seine Kirchenlieder waren Gassenhauer. Später wurden sie Klassiker und sind es bis heute. 

Von Einsendungen überschwemmt
1962 lancierte die evangelische Kirche in Bayern einen Wettbewerb für neue Kirchenlieder. Es sollten Lieder eingesandt werden, «die dem von Jazz- und Unterhaltungsmusik geprägten Resonanzvermögen der Jugend entsprechen». Die Initianten des Wettbewerbs wurden von 996 Einsendungen überschwemmt. Als Sieger krönten sie «Danke für diesen guten Morgen» (RG 579), heute der Klassiker unter den modernen Kirchenliedern. Mitten in der daraufhin losbrechenden Welle des «modernen Kirchenliedes» wurde ich als Elfjähriger in der gotischen Stadtkirche mit dem Virus des traditionellen Kirchenliedes aus der Renaissance- und Barockzeit infiziert, das ich bis heute in mir trage.

 

Bewährtes Erfolgsrezept
Hat das Kirchenlied eine Zukunft? Ja, denn es ist zu allen Zeiten einem bewährten Erfolgsrezept gefolgt: tiefgründige Texte verbunden mit volkstümlichen Melodien. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, ob ein Lied 500, 50 oder 5 Jahre alt ist. Die Geschmäcker der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sind sowieso verschieden. Qualität verliert sich nicht. 

Für ein Taizélied reicht es allemal
Als nun älter gewordener Pfarrer muss ich zugeben, mit bestimmten Strömungen heutiger Kirchenmusik nicht allzu viel anfangen zu können. Die in Freikirchen beliebten Anbetungslieder, die in den letzten Jahren auch in unseren Kirchen Verbreitung gefunden haben, erscheinen mir häufig textlich flach und musikalisch seicht. Anders ergeht es mir bei den Taizé-Liedern. Als Pilger habe ich schon bewegende Momente erlebt, wenn in einer Pilgerherberge plötzlich jemand ein Taizé-Lied anstimmte. Diese emotionalen Melodien kombiniert mit Texten in SMS-fähiger Kürze «verheben» auch dort, wo Leute aus aller Welt ohne Liederbuch beieinandersitzen. Das Auswendiglernen ist in den Schulen zwar aus der Mode gekommen, aber für ein Taizé-Lied reicht es noch allemal. Ich bin zuversichtlich, dass die Erfolgsgeschichte des Kirchenliedes weitergehen wird.

 

Text: Klaus Steinmetz, Pfarrer von Buechen-Staad, Kirchgemeinde Thal-Lutzenberg | Foto: Christian Pulfrich, Wikimedia  – Kirchenbote SG, Oktober 2020

 

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