Wo bleibt er denn?
Irgendwann wurden die Kinder unruhig. Es war dunkel und wurde immer kühler. «Wann kommt er denn endlich?», fragten einer. «Ach, nur noch ein kleines bisschen», beruhigte ihn die Mutter. Aber auch eine Stunde später, war nichts zu sehen. Auch nicht zwei Stunden später. Wieder und wieder fragten die Kinder. «Wann kommt er denn endlich? Ich bin schon ganz müde, Mama.» «Schlaf jetzt bloss nicht ein», herrschte ihn der Vater an. «Wir müssen wach sein, wenn der Herr kommt!».
Als die Sonne sich langsam hinter der Hügelkette empor schob und die ersten Vögel zu singen begannen, wurden auch die älteren unter ihnen unsicher. «Jetzt wird es aber Zeit», flüsterte einer leise vor sich hin. Nichts passierte. Einer nahm seinen Koffer und ging wieder nach Hause. Mit gesenktem Haupt. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
So oder so ähnlich ist es im Laufe der vergangenen 2000 Jahre Kirchengeschichte immer wieder geschehen. Da waren sich religiöse Gemeinschaften ganz, ganz sicher, dass die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstehen würde. Sie hatten die Zeichen der Zeit erkannt. Die einen vertrauten auf das, was sie an Anzeichen in der Bibel zu erkennen glaubten. Andere stellten komplexe Berechnungen an. Vor allem die Offenbarung des Johannes gab immer wieder Anlass für diese Vorstellungen. Und das hat sich bis heute nicht verändert. Gerade kürzlich sagte jemand zu mir, dass doch jetzt der Krieg in Gaza der Anfang der Schlacht von Armageddon sei. Die endgültige Schlacht zwischen Gut und Böse. Der Begriff «Armageddon» kommt in der Bibel nur einmal vor: Offenbarung 16, 16. Das Wort «Liebe» kommt über 500 Mal vor. Das sollte die ganze Sache schon mal etwas relativieren und die Aufmerksamkeit verlagern. Oder?
Und ausserdem: Ich habe im Studium noch gelernt, dass die ersten Christen mit der realen Wiederkunft Christi ziemlich bald nach Auffahrt gerechnet hätten. Nachdem die aber nicht so greifbar stattgefunden hatte, sprachen sie von einer Parusieverzögerung, also einer Verzögerung der Wiederkunft Christi. Die dauert jetzt bald 2000 Jahre an. Anstatt also heute das unmittelbar bevorstehende Ende herbeizusehnen, stellen wir doch lieber die Frage, ob das mit der Wiederkunft nicht vielleicht doch anders gemeint war. Wenn die ersten Christen sich die Sache noch mal anders überlegt haben, könnten wir das ja auch versuchen. Zum Beispiel so: Was, wenn es die Erscheinung Jesu im Herzen der Gläubigen meint? Wenn also jemand das Reich Gottes in sich entdeckt und es sich so unter den Menschen mehr und mehr ausbreitet? Das wäre eine völlig andere Naherwartung. Eine Erwartung voller Vertrauen und Hoffnung. Eine Perspektive, die aufstehen lässt aus der Grabesexistenz. Die Gleichnisse Jesu erzählen in bunten Bildern von diesem anderen Leben, vom Reich Gottes. Das ist der Beginn eines neuen Lebens. Und dann ist Christus schon milliardenfach wieder gekommen. Und er tut es heute wieder. Worauf also warten?
Wenn wir im Unser Vater beten, «Dein Reich komme», bezieht sich das nicht auf die Schlacht von Armageddon. Wir erbitten, dass sich das Reich Gottes in und um uns ausbreitet (Lukas 11, 20). Und das tut es längst! Und es widerspiegelt den Narzissmus unserer Zeit, dass wir den Eindruck haben: Jetzt ist es soweit. Jetzt kommt der finale Showdown, das Ende. Jetzt holt er uns, weil wir alles richtig gemacht haben. Es ist schon mancher enttäuscht nach Hause gegangen.
 
                                     
         
         
         
        
Wo bleibt er denn?