«Wo befreundete Wege zusammenlaufen …»
«Häsch mi?» Beinahe wäre die Frage im Hals des Kindergärtlers stecken geblieben. Die heruntergezogenen Lippen der scheu Angefragten besagten genug. Mit sechseinhalb Jahren den ersten Korb eingefangen. Wie lange ich auf eine positive Antwort einer (andern) heimlich Angebeteten warten musste, weiss ich nicht mehr. Unbemerkt bleiben konnte die Eroberung nicht lange: «Die händ denand als Schatz, die händ denand als Schatz …»
Freundschaft im Lebenslauf
Die Frage nach dem Wert der Freundschaft macht mich hellhörig. Wem soll, wem darf ich meine Freundschaftspalme zugestehen? Und überdies: Wessen Freundschaft habe ich verdient? Unzählige Figuren klopfen an die Tür meiner Erinnerungen: Gspänli aus dem Sandkasten, Nachbars-Gofen, Begleiterinnen und Begleiter vom Schulweg, Mitstifte, Kumpel aus dem Turnverein, Suchende im Kreis der Jungen Kirche, Militärkameraden (so bezeichnet, weil dienstvorschriftlich so befohlen), Stammtischbrüder, Kolleginnen und Vorgesetzte aus allen Phasen meines Berufslebens, Mitpilger auf dem Camino, durch Familienbande Nahestehende.
Und zwischen all diese Mädchen und Buben, diese Frauen und Männer, drängelt sich ab und zu die Katze aus meinem Elternhaus, schmiegt sich – leider auch nur noch in der Erinnerung – der Schäferhund-Mischling Charlie, mein Begleiter während der vergangenen zehn Jahre, an mich.Â
Seit Jahren wundere ich mich, dass ich immer wieder in dieselbe Lage gerate: Anfänglich kritische, fast ablehnende Haltung gegenüber bislang fremden Menschen hat sich nicht selten als gesunder Nährboden für schöne Beziehungen erwiesen. Meinungsverschiedenheiten können ein guter Dünger sein. Wo räumliche und zeitliche Distanz Verbindungen zu Bruch gehen liessen, haben Wiederbegegnungen – und seien sie noch so herbeigewünscht – unterschiedliche Facetten: Mit den einen Leuten lässt sich so reden, als hätten wir uns erst am Vorabend unterhalten; anderen, einstmals noch so Vertrauten, hockt man beim Wiedersehen schier sprachlos gegenüber.
Freundschaft im LebensrĂĽckblik
In diesem Auf und Ab der GefĂĽhle offenbart Der Prophet von Khalil Gibran eine wunderbare Erkenntnis: «In der Freundschaft werden alle Gedanken, alle WĂĽnsche, alle Erwartungen Âohne Worte geboren und geteilt, mit Freude, die keinen Beifall braucht. Wenn ihr von eurem Freund weggeht, trauert ihr nicht, denn was ihr am meisten an ihm liebt, ist vielleicht in seiner Abwesenheit klarer, wie der Berg dem Bergsteiger von der Ebene aus klarer erscheint.»
Eben ist mir ein Schulfoto in die Finger geraten, aufgenommen vor 60 Jahren. Neugierig-kritisch schauen wir gut Zwölfjährigen in die Kamera. Kameraden, Gespanen, MitschĂĽler? Wenn wir uns im Herbst nach geraumer Zeit im Klassenverband treffen, wird wohl auch die Frage wieder aktuell: Wem soll, wem darf ich meine Freundschaftspalme zugestehen? Wessen Freundschaft habe ich verdient?Â
Text: Hans Ruedi Fischer (fis), Wildhaus | Fotos: as  – Kirchenbote SG, Juni / Juli 2015
«Wo befreundete Wege zusammenlaufen …»