«Wir haben nicht verstanden, was Integration bedeutet»

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03.02.2023
Ahmad Mansour gehört zu den dezidiertesten Kritikern des politischen Islams. Für seine Arbeit erhielt er den Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Basel.

Herr Mansour, Sie haben den Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Basel erhalten. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Sie ist eine unfassbare Anerkennung. Als ich die Nachricht erhielt, war ich mir zunächst nicht sicher, ob es sich um einen Scherz handelte. Für mich ist diese Auszeichnung eine Ehre. Sie unterstützt meine Arbeit, die in Deutschland nicht einfacher geworden ist.

Sie selbst sind Muslim und bekannt als Islamkritiker.
Ich bin kein Islamkritiker, ich kritisiere alle Religionen. Ich betrachte gewisse Aspekte in meiner Religion kritisch, aus Liebe zu der Kultur, in der ich aufgewachsen bin.

Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube?
Glaube ist für mich etwas sehr Intimes und Persönliches zwischen Gott und mir. Nach meinem Verständnis von Religion darf ich Glaubenssätze hinterfragen und mit Gott streiten. Ich will nicht blind Texte auswendig lernen, um ihnen ohne Verstand zu folgen. Religion bedeutet für mich, auch Widersprüche zu thematisieren.

In Ihren Auftritten und Ihren Büchern wenden Sie sich gegen den politischen Islam.
Ich arbeite in Berlin mit jugendlichen Migranten. Dabei habe ich festgestellt, dass der politische Islam eine Gefahr darstellt. Es geht nicht um Muslime, die sich politisch engagieren, sondern um Strukturen, die eingesetzt werden, um die Demokratie zu unterwandern und die Muslime zu beeinflussen. Finanziert werden diese durch Saudi-Arabien, Katar und die Türkei. Jeder Mensch, der an die Demokratie glaubt, sollte da Aufklärungsarbeit leisten.

Warum radikalisieren sich Jugendliche in Westeuropa? Sie haben hier doch alle Freiheiten?
Weil wir nicht verstanden haben, was Integration bedeutet. Wir meinen, Integration sei Sprache plus Arbeit minus Kriminalität, und dann werde es irgendwie klappen. Wir haben mit den Migranten jedoch nie über ihre Sozialisation, ihre Erziehung und über ihre Werte gesprochen, mit denen sie aufgewachsen sind und die sie mitbringen. Das sind die Risikofaktoren, über die sich religiöse Ideologien in Europa ungestört verbreiten. Wir haben Angst, diese zu thematisieren. Die Radikalisierung ist die Konsequenz unserer Naivität und unseres Nichtstuns. Wenn wir die Leute gewinnen wollen, brauchen wir flächendeckende Konzepte, die unsere Werte wie Selbstbestimmung, Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit konsequent vertreten und dafür werben.

Warum fällt es dem Westen so schwer, auf den politischen Islam zu reagieren?
Das Problem ist die fehlende Bereitschaft, die Schwierigkeiten mit bestimmten Gruppen anzusprechen. Gerade die Ausschreitungen an Silvester haben dies in Deutschland gezeigt. Die Linke folgt der Ideologie, uns Muslime nur als schutzbedürftige Opfer zu sehen und nicht als gleichberechtigte Bürger einer demokratischen Gesellschaft. Wenn die Mitte der Gesellschaft diese Probleme nicht anspricht und nicht Lösungen sucht, tun dies die Rechtsradikalen und verbreiten Hass und Rassismus und schlagen daraus politisches Kapital.

Was sollte man tun?
Eine gesunde Demokratie lebt von der offenen politischen Debatte, in der unterschiedliche Meinungen existieren. Man tauscht Argumente aus und streitet darüber. Wenn eine Gesellschaft Themen tabuisiert und gewisse Haltungen diffamiert, erkrankt sie. Deutschland erfährt gerade, dass man Probleme nicht löst, indem man sie relativiert oder die Diskussion darüber mit Rassismusvorwürfen erstickt. Das funktioniert nicht.

Zu einem anderen Thema: Im Iran demonstrieren Frauen gegen das Kopftuch. In Europa gilt das Kopftuch teils als Ausdruck westlicher Toleranz. Was stimmt da nicht?
Die Doppelmoral zeigt, dass man hier Ideologien folgt und die Sache nicht offen angeht. Linksradikalen und Islamisten ist es gelungen, mit ihren Narrativen den Diskurs zu verhindern.

Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich stamme aus einer Familie, in der Frauen ein Kopftuch tragen, auch meine Mutter. Wir sollten die Frauen deshalb selbstverständlich nicht diskriminieren. Ich möchte jedoch festhalten, das Tragen des Kopftuchs geht auf den Einfluss und die Mission des politischen Islams zurück. In den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts bedeckte die Mehrheit der Frauen im Iran, in Palästina, Jordanien oder Afghanistan ihr Haar nicht. Das Kopftuch steht nicht für Feminismus und Gleichberechtigung, sondern ist Ausdruck der Unterdrückung der Frauen und der Tabuisierung ihrer Sexualität. Trotzdem kann man beides tun: einerseits Frauen, die ein Kopftuch tragen, akzeptieren und nicht ausgrenzen und andererseits das Tragen des Kopftuchs kritisieren. Diese Kritik hat nichts mit Rassismus und Islamfeindlichkeit zu tun.

Wie stark beruht der politische Islam auf der patriarchalen Gesellschaft und ist damit ein Männerproblem?
Patriarchale Strukturen sind im Islam wie auch in anderen Religionen traurige Realität. Wenn die Frauen jedoch nicht mitmachen würden, würden die Strukturen auseinanderbrechen. Leider gibt es viele Frauen, die daran festhalten und die patriarchalen Strukturen sogar verbreiten. Den Müttern kommt da eine besondere Rolle zu, die Kontrolle der Frauen und der Mädchen in der islamischen Gesellschaft geschieht zunächst durch Frauen. Die Männer schalten sich dann ein, wenn diese nicht funktioniert. Die Männer profitieren von diesem System und sind die treibende Kraft dahinter.

In der Schweiz gibt es Bestrebungen, Imame für die hiesigen Moscheen an den Universitäten auszubilden. Was halten Sie davon?
Absolut richtig. Die Universitäten müssen in diesem Angebot die Werte der demokratischen Gesellschaft vermitteln. So müssen sich die Imame später nicht entscheiden, ob sie Muslime oder Demokraten und Schweizer sein wollen.

Sie thematisieren immer wieder den aufkommenden Antisemitismus in Europa.
Der Antisemitismus ist nach wie vor da, das zeigen nur schon die Verschwörungstheorien während der Corona-Zeit. Inzwischen finden wir Antisemitismus bei den Rechts- und den Linksradikalen, den Reichsbürgern und den Verschwörungstheoretikern. Und beim Thema Israel auch in der Mitte unserer Mehrheitsgesellschaft. Wenn ich den Leuten beim Abendessen erzähle, ich sei Palästinenser, dann staune ich, wie viele antisemitische Äusserungen folgen. Die Problematik hat sich durch die Migration verstärkt, da etwa die Iraker, die Syrer oder die Afghanen in diesem Geiste aufwuchsen und die Koranschulen oder die staatlichen Schulen den Antisemitismus nie hinterfragten.

Was kann man dagegen tun?
Mehr Bildung, mehr Aufklärung. Und vor allem klare Botschaften: Wer auf der Strasse vor einer Synagoge judenfeindliche Slogans schreit, hat seinen Platz in der Gesellschaft verspielt. Es braucht da klare Grenzen und härtere Bestrafung. Die Gesellschaft muss den Menschen, die oftmals aus autoritären Staaten kommen, zeigen, dass sie vieles toleriert, aber Gesetzesüberschreitungen ahndet.

Islam, Judentum und Christentum sind verwandt, in ihren Büchern finden sich ähnliche Texte. Warum finden sie nicht zum Frieden?
Machthaber und Theologen missbrauchen die Religionen, um daraus politisch Kapital zu schlagen. Das ist nach meiner Meinung nicht im Sinn Gottes, der nicht zwischen den Menschen unterscheidet und der die Botschaft der Liebe verbreitet.

Sie sind selber Opfer der Radikalisierung. Sie stehen unter Personenschutz. Wie lebt es sich mit der Bedrohung?
Ich lebe mittlerweile seit acht Jahren unter Personenschutz und kann beispielsweise nicht mehr alleine einkaufen gehen. Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, das mir trotzdem Sicherheit ermöglicht und mir hilft, dass ich meine Meinung äussern kann. Seit einigen Monaten befürchte ich jedoch, dass sich der Westen in eine problematische Richtung entwickeln und kritische Stimmen stumm schalten könnte. Das belastet mich. Ich bleibe aber zuversichtlich und optimistisch, dass der grössere Teil der Gesellschaft weiterhin auf die Demokratie und den Austausch von Argumenten setzt.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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