Wer Gerechtigkeit sät, wird Frieden ernten
Nachdenklich schauen wir uns an, ein leitender Mitarbeiter des Bundesasylzentrums und ich. Wir unterhalten uns über die aktuelle Weltlage und stellen fest, dass offensichtlich weltweit das Recht des Stärkeren immer mehr an Gewicht gewinnt. «Heute gibt es wieder Brot und Spiele», meint er, «wie damals im römischen Kaiserreich.» «Ja,» pflichte ich ihm bei, «und damals wie heute ist die Maxime: teile und herrsche – divide et impera». Die treffendere Übersetzung wäre eigentlich: «spalte und herrsche», das leider bewährte Mittel für Willkürherrschaft. Es verhindert Solidarität und untergräbt Widerstand gegen Ungerechtigkeit.
Während wir uns über die oft fehlende Gerechtigkeit unterhalten, schweifen meine Gedanken zu den vielen schweren Schicksalen der Menschen zwischen diesen Mauern hoch oben im Appenzeller Vorderland. Viele flüchteten aus Ländern und Situationen, wo ihre Rechte mit Füssen getreten werden. Sie können dort, wo sie herkommen, weder auf Gerechtigkeit noch auf Menschenwürde hoffen.
Drei Menschen haben mir die Erlaubnis gegeben, ihre Geschichte anonym zu erzählen. Ihre Namen sind geändert, die Umstände so geschildert, dass sie keine Rückschlüsse zulassen.
Die Geschichte von Amira
Amira stammt aus einem vorderasiatischen Land und ist Muslima. Sie ist mit Mann und Kindern hierher geflohen. «Ich habe eine sehr eingeschränkte Kindheit erlebt, weil ich eine Frau bin. Ich durfte fast nichts tun. Doch ich habe nie aufgehört zu träumen, trotz all dieser Einschränkungen. Ich möchte sehr gerne Zahnärztin werden. Diesen Traum habe ich immer noch. Doch da, wo ich herkomme, ist das unmöglich. Wir dürfen ja oft noch nicht einmal eine Schule besuchen. Ich bin gerade sehr traurig. Ich habe von einem Verwandten erfahren, wie die Herrschenden etliche junge Mädchen und Frauen verschleppt haben. Man weiss nicht, was mit ihnen passiert ist. Und niemand darf protestieren, das wäre viel zu gefährlich. Sie haben keine Rechte, weder die Verschleppten noch ihre Familien. Gerechtigkeit heisst für mich ganz klar eine Gleichberechtigung auch für Frauen. Frauen sollen dieselben Möglichkeiten haben wie Männer. Sie sollen finanziell unabhängig sein können. Eine Frau soll ihre Träume genauso verwirklichen dürfen wie ein Mann. Das heisst für mich Gerechtigkeit.
Ich weiss, dass die Schützen niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Also rufe ich Gottes Gerechtigkeit an.
Wie ich die Gerechtigkeit in der Schweiz finde? Ich finde sie ganz grossartig, richtig gut! Ich bewundere sehr, welche Möglichkeiten Frauen in der Schweiz haben. Sie dürfen alles sagen und überall hingehen. Sie können sich frei bewegen. Sie dürfen alle Berufe ergreifen. Sie haben politische Rechte und sie können finanziell unabhängig sein.
Ehrlich gesagt weiss ich ja nicht, ob es nicht zu spät ist für mich, um Zahnärztin zu werden. Ich weiss, ich muss dafür erst perfekt Deutsch können. Ich lerne zwar fleissig, aber das wird dauern. Doch ich kämpfe dafür und setze alles daran, dass ich meinen Traum eines Tages verwirklichen kann. Und wenn es nicht klappt, kann ich vielleicht Zahnarztassistentin werden.
Ob Gott gerecht ist? Ja, ganz sicher, da habe ich keinen Zweifel. Herrschende können ungerecht sein, aber nicht Allah. Gott hilft uns und ist auf der Seite der Gerechtigkeit.»
Geschichte von Soraya
Soraya stammt aus einem lateinamerikanischen Land und ist eine Transfrau. Auch in ganz schwierigen Momenten pflegt sie jeweils zu sagen: «Ich höre nicht auf, auf Gott zu vertrauen.» Sehr gut erinnere ich mich an unser erstes Treffen. Sie sitzt ruhig wie ein Buddha da und erzählt mir mit leiser Stimme ihre Geschichte. «Mit knapper Not bin ich einem Mordanschlag entgangen. Gott hat mir geholfen, ich konnte im letzten Moment entkommen. Sie haben sich geschworen, dass sie ‹diese Schwuchtel› umbringen wollen. Mein Bruder hat mir geholfen, aus dem Land zu fliehen. Er ist Christ, das ist dort Bezeichnung für einen pfingstlich-evangelischen Christen. Das tat er, indem er seine eigene Wohnung verkaufte. Er geniesst als Christ einen gewissen Schutz, denn die Banden fürchten sich vor göttlicher Vergeltung und lassen Christen daher in Ruhe.
Hier in der Schweiz schreit mir niemand hinterher oder bedroht und bedrängt mich. Ich kann atmen hier. Da wo ich herkomme, ist es fast nicht möglich, eine Arbeit zu finden ausserhalb der Prostitution. Ich musste sehr lange suchen und konnte schliesslich in einer Bäckerei arbeiten, bis ich auf dem Nachhauseweg eben überfallen wurde. Ich liebe es, Süssigkeiten herzustellen. Am liebsten würde ich auch hier in der Schweiz eine Süssigkeitenbäckerei eröffnen.
Gerechtigkeit heisst für mich, frei zu sein, dieselben Rechte zu haben wie alle anderen Menschen, sein zu dürfen, wer ich bin. Da wo ich herkomme, kann und darf ich das nicht. Und das bedeutet ein grosses Leiden.»
Geschichte von Rebekka
Rebekka stammt aus einem afrikanischen Land. «Ich hatte ein gutes Leben. Wir lebten als Familie und Regierungsbeamte in einem Haus, wir hatten ein Auto. Wir sind katholische Christen. Der Glaube ist mir sehr wichtig. Doch dann kam der Moment, in dem ich einen ungerechten Befehl hätte erteilen sollen. Das konnte ich nicht. Ich bin ja selbst Mutter von Kindern. Ich konnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, Gewalt gegen Jugendliche ausüben zu lassen. Da wurde es richtig schlimm. Ich konnte nicht einmal mehr Medikamente für meinen Sohn einkaufen, ich stand auf der Fahndungsliste der Regierung, sie wollten mich töten. Ich war gezwungen, alles hinter mir zu lassen ausser meinen Kindern, die ich mitnehmen konnte. Jemand aus der Regierung half uns heimlich, das Land rechtzeitig zu verlassen.
Nun bin ich hier und muss von Null anfangen. Das ist sehr schwer. Ich habe ausser meinen Kindern alles verloren, auch den Rest meiner Familie, meine Freunde, meine Kultur, meine Stellung. Aber wenn ich hier auf die Strasse gehe, fühle ich mich sicher. Niemand trachtet mir nach dem Leben.
Schau, ich zeige dir ein Video. Eine junge Frau ist soeben von Regierungsbeamten erschossen worden bei Aufständen. Die Kugel traf sie in ihrer Wohnung, sie war noch nicht einmal beteiligt. Da siehst du nun die Aufzeichnung bei ihrer Beerdigung. Hör dir an, was ihre Mutter dabei sagt: ‹Aber Gott ist voller Gerechtigkeit›. Sie weiss, dass die Schützen niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Also ruft sie Gottes Gerechtigkeit an.
Ich möchte auch gerecht sein, ich kann nicht ungerecht handeln als Christin. Doch ich bezahle dafür einen hohen Preis. Auch das ist nicht gerecht.»
«Selig sind die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden satt werden.» So steht es in der Bergpredigt. Werden die drei hier satt werden? Ich weiss es nicht. Doch eines weiss ich: «Gott ist voller Gerechtigkeit». Der Kampf für Gerechtigkeit ist auch Gottes Kampf. Propheten im Ersten Testament haben ihn geführt, Jesus ebenso, und viele nach ihm, auch der Koran betont, dass Gerechtigkeit Grundlage des Friedens ist. Wer satt ist, ist zu-Frieden.
Wer Gerechtigkeit sät, wird Frieden ernten