Fokus Stadt und Land

Spiritualität im Appenzellerland

von Markus Grieder
min
01.09.2024
Der Begriff «Spiritualität» ist ein Modebegriff geworden, kommerzialisiert und abgegriffen. Man meint, Spiritualität konsumieren zu können, samt dem Erfolg von Entspannung, Heilung auf Bestellung, innerem Frieden und Eierkuchen.

Doch was ist Spiritualität? Im Appenzellerland wird nach alter Tradition nicht meditiert, jedenfalls nicht auf Yogamatten und im passenden Dress. Einmal versuchte ich, einer Konfirmandenklasse Meditation zu erklären: «Stellt euch vor, ihr seid frühmorgens um fünf Uhr allein auf der Alp und mäht mit der Sense ein steiles Bord. Die Sonne geht auf. Da macht doch jeder kurz Pause und ist sehr berührt von der wunderbaren Stille, von der Schönheit der Natur». Ein Bauernjunge reagierte leicht ungehalten. Er dachte, ich wolle ihn auf den Arm nehmen, indem ich sein echtes Erleben mit Meditation gleichstellte, was für ihn unbesehen was Doofes war, seiner bodenständigen Welt völlig fremd. Als ich ihm genauer erklärte, dass ich das sehr ernst meine, dass sein Erleben wirklich auch Meditation sei, fühlte er sich verstanden. Er sagte nichts mehr, lächelte vor sich hin. So ist das mit der Spiritualität im Appenzellerland. Man hat sie im Blut, redet aber nicht darüber.

Spiritualität ist ein Begriff mit einer grossen Bandbreite an Bedeutungen. Die billigste Bedeutung ist einfach ein bisschen Besinnlichkeit im Sinn von ungestörtem Genuss. Dann ist ein Leseabend im Bücherladen, je nach Buchtitel auch spirituell und jedes Feierabendbier noch spiritueller, weil da der Spiritus gleich mit dem Bier auszutrinken ist. Der Sache näher kommt die Vorstellung, dass Spiritualität die Art ist, wie man seinen Glauben lebt. Reformierte leben ihren Glauben in anderer Form als Katholiken. Gemeinsam haben sie die freiheitliche Art, dass sie vor allem das glauben, was sie im Innersten wirklich berührt. So unterscheiden sie das Echte vom blossen Angelernten. Wissen und behaupten ist nicht dasselbe.

Im Stillen gelebte Heilertradition

Die traditionellen Appenzeller, so wie ich sie erlebe, stehen mit beiden Füssen auf dem Boden, haben einen starken Bezug zur Natur. Sie haben grossen Respekt vor den Naturgewalten. Sie wissen auch um geistige Kräfte. Von da her kommt es, dass in Appenzell Innerrhoden bis heute auf mancher Alp jeden Abend der Alpsegen gerufen wird. Aber auch reformierte Bauern wissen um die heilsame Macht der drei höchsten Namen. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Neben der guten Spiritualität gibt es alle Arten von Aberglauben und schwarzem Gebrauch der Energien zum eigenen Vorteil. Darüber darf man in der modernen Welt, die sich von der Wirklichkeit der Energien zwischen Himmel und Erde verabschiedet hat, gar nicht mehr reden. So schweigen die Kenner und wissen trotzdem, was sie erleben. Die Volksfrömmigkeit, die Heilertraditionen werden im Stillen gelebt. In der Not suchen auch Bildungsbürger, die sonst bekennende Materialisten sind, durchaus den Geistheiler auf.

Städter, lasst das Applaudieren!

Das «Chlausen» mag zwar bei vielen Besuchern aus der Stadt gewisse Sehnsüchte bedienen. Aber verbindlich um Spiritualität geht’s wohl meistens nicht. Da muss man als Besucher schon genauer hinschauen wollen und vor allem auch einfach mal schweigen können und nach dem Zauren das Applaudieren sein lassen. Wie anders soll man die Energie des Zaurens und Schellens überhaupt spüren können? Dann sieht man diese Gesichter, junge und alte. Eben bestellten sie noch ein Bier oder einen Lutz. Plötzlich beginnt einer das nächste Zäuerli und auf einen Schlag wird jedes Gespräch abgebrochen, die lachenden Gesichter werden ernst und in sich gekehrt. Viele schliessen dabei die Augen. Da merkt man, wie unter der rauhen Schale ein lebendiges Innenleben vorhanden ist.

Die Appenzeller verbinden eine eher grobe äussere Art, nicht selten aber mit unglaublichem Tiefgang. Ein alter Mann, der um keinen schlüpfrigen Witz verlegen war und gern und viel lachte, machte den Eindruck, er sei ein oberflächlicher Mensch. Er hatte die Gabe des Heilens. Geredet hat er zu Lebzeiten nie darüber. Aber ich weiss, dass er die Kraft von Oben so heftig fliessen lassen konnte, dass er Krankheiten heilte, die schulmedizinisch als Todesurteil gelten. Typisch appenzellisch ist auch die Eigenart, dass man sein verletzliches hochsensibles Innenleben mit witzeln und gifteln und mitunter auch mit Alkohol zu schützen versucht.

Handfest gelebter Glaube

Das Inneneben der Appenzeller ist weniger dogmatische geprägt, sondern stärker von den eigenen Erfahrungen. Es geht nicht um dogmatische Korrektheit, sondern um das stille Wissen, dass der Schöpfer in der Natur wunderbar wirksam und spürbar ist. Es geht um das Wissen, dass die Kraft von Jesus Christus heilt und wirkt. Gelebt wird dieser Glaube meist nicht fromm, sondern handfest.

Ein betont christlich-neutestamentlicher Glaube an Jesus Christus hat durchaus seinen akzeptierten Platz, wenn die Menschen spüren, dass er aufrichtig gelebt wird und nicht besserwisserisch auftritt. Es gibt im Appenzellerland nicht wenige sehr gläubige, erfrischend naturverbundene Menschen, die beide Füsse auf dem Boden haben und das Herz am rechten Fleck. Menschen, die wegen schlechten Erfahrungen mit schwarzer Magie gläubige Christen geworden sind, weil sie hier Freiheit fanden, Heilung und Schutz. Ein gelebter Glaube wird aufrichtig respektiert. Allzu redseliges Missionieren wird dagegen gern bespöttelt, weil bloss geschwatzte Liebe leer ist und peinlich.

 

Fokus Stadt und Land

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