Sommerserie: Bibelkrimis

Sein letzter Fall

von Tilmann Zuber
min
23.07.2025
Morden gehört seit den ersten Tagen zur Existenz der Menschheit. Auch in der eigenen Familie. Doch manchmal liegt die Wahrheit anders, als man glaubt. Der erste Bibelkrimi unserer Sommerserie.

Kommissar Emil Hartmann hatte noch genau drei Wochen bis zur Pensionierung. Nach fast vierzig Jahren im Dienst der Luzerner Kriminalpolizei war sein Gesicht so vertraut wie der Geruch von kaltem Kaffee und die gurgelnden Geräusche der alten Zentralheizung in seinem Büro. Seine Kollegen machten schon Witze über das «Countdown-Tagebuch», das er mit ironischer Hingabe führte.

Doch dann kam der Anruf.

Eine Leiche in der Villa Falkenberg. Reiche Leute. Mondäne Adresse am Hang über dem Vierwaldstättersee. Gläserne Front, schneeweisse Designermöbel, ein Blick, so scharf wie ein Skalpell. Emil hasste solche Tatorte. Zu steril, zu kalt, zu durchinszeniert. Doch als er den Namen des Opfers hörte, wusste er: Dieser Fall würde ihn nicht so rasch loslassen.

Das Opfer hiess Janos Falkenberg, 44, CEO der Falkenberg AG – ein Imperium für digitale Medientechnologie, das in den letzten Jahren Millionen scheffelte. Er lag in seinem Designerbüro, den Kopf auf der Marmorplatte seines Schreibtisches, die Stirn aufgebrochen wie eine reife Melone. Blut hatte sich in feinen Linien in die Maserung des Steins gesogen. Die Tatwaffe: eine antike Bronzeplastik die in einer Glasvitrine fehlte. Spuren eines Nahkampfs, keine Anzeichen für einen Einbruch.

Neben ihm, auf dem Boden, lag ein zerrissenes Foto – zwei Jungen, lachend, Arm in Arm, etwa zehn Jahre alt.

«Das sind die Falkenberg-Brüder», sagte Kommissarin Livia Meyer, Emils einstige Assistentin, jung, klug, ungeduldig. «Janos und David. Der eine erbte das Imperium. Der andere... den Schatten, der auf der Familie ruht.»

David Falkenberg war der jüngere Bruder, nur ein Jahr getrennt von Janos. Einst unzertrennlich, doch nach dem Tod der Eltern vor zwanzig Jahren ging etwas kaputt. Das Erbe wurde geteilt – ungleich. Janos übernahm die Firma, David erhielt eine symbolische Abfindung und verschwand aus dem Rampenlicht.

Während die Spurensicherung arbeitete, fand Livia etwas Merkwürdiges: In Janos’ privatem Notizbuch stand eine einzige Zeile, mit schwarzem Fineliner, fett und unruhig geschrieben:

«Soll ich meines Bruders Hüter sein? Vergiss es!»

Ein Bibelzitat. Fast. Emil erinnerte sich dunkel an seine Kindheit. An den sonntäglichen Kirchgang. An Kain und Abel.

Zwei Brüder. Einer erschlägt den anderen. Aus Eifersucht. Aus Zurückweisung. Gott stellt ihn zur Rede, aber verschont ihn – gibt ihm das «Kainsmal», damit niemand ihn töte.

«Ich werde ihn nicht verschonen.», murmelte Emil.

 

Sommerserie Bibelkrimis

Biblische Geschichten erzählen von zeitlosen Konflikten: Eifersucht, Verrat, Machtmissbrauch. Diese Themen sind heute so aktuell wie einst. In der Sommerserie «Bibelkrimis» macht der «Kirchenbote» aus bekannten Bibeltexten Kriminalfälle der Gegenwart. Dabei zeigt sich: Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Vergebung bleiben aktuell.

Jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge: Mittwoch, 16., 23., 30. Juli, 6. August und 13. August.

 

Hartmann lenkte seinen dunkelblauen BMW 501 aus der Stadt hinaus in die Vororte. Trostlose Industriebauten wechselten sich ab mit ebenso tristen Ladenzeilen voller Kebabstände und Pizzerien. Dann wurden die Gebäude seltener, die Landschaft freundlicher, grüner. Emil war hier aufgewachsen. Er kannte das Gefühl, der Einöde zu entkommen und dabei die Heimat zu verlieren. Er warf einen Blick nach links. Livia schaute aus dem Fenster und strich sich hin und wieder eine blonde Strähne hinters Ohr. Sie hatten ein gutes Team gebildet, trotz des Altersunterschieds von 30 Jahren. Bonnie und Clyde, nur auf der Seite der Gerechtigkeit, dachte er mit einem Schmunzeln. Doch eigentlich wusste er kaum etwas über sie. Und jetzt war es zu spät, sie noch zu fragen.

Emil und Livia fanden David Falkenberg in einer heruntergekommenen Villa am Rand von Meggen. Er lebte zurückgezogen, schrieb angeblich an einem Roman, der nie fertig wurde, rauchte zu viel, trank noch mehr. Der Kontrast zu Janos hätte grösser nicht sein können.

«Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen», sagte David, nachdem er die Türe geöffnet hatte. «Was auch immer zwischen uns war, ich habe längst meinen Frieden gemacht.»

Aber Emil glaubte ihm nicht. Es war zu glatt, zu einstudiert. Er kannte diesen Blick – die Mischung aus Trauer, Neid und stiller Wut. Er hatte ihn oft gesehen, meist bei Geschwistern, die von klein auf gegeneinander ausgespielt wurden.

Doch dann wendete sich der Fall.

***

Der Notar des Hauses Falkenberg kontaktierte die Polizei. Janos hatte kurz vor seinem Tod sein Testament geändert – zu Gunsten von David. Die gesamte Firma, das Haus, der gesamte Besitz – alles sollte an den jüngeren Bruder gehen, «um den Kreis zu schliessen».

«Warum ändert man plötzlich sein Testament?», fragte Livia. «Aus Reue? Aus Angst?»

«Oder weil man wusste, dass man sterben würde», sagte Emil.

Er bat um Einsicht in die Finanzunterlagen. Und siehe da: Die Falkenberg AG war de facto pleite. Ein Kartenhaus aus Schulden, Beteiligungen und Luftbuchungen. Nur David wusste das nicht – noch nicht.

***

Emil konfrontierte David ein letztes Mal, diesmal allein. Im sterbenden Licht des Abends sassen sie auf der Terrasse des alten Hauses, Zigarettenrauch kräuselte sich in der Luft.

«Sie haben es herausgefunden, nicht wahr?», sagte David. «Dass Janos mir alles hinterliess, damit ich mit der Ruine untergehe.»

Emil schwieg.

«Er hat mein Leben zerstört, bevor es begann. Ich war immer der Zweite, der Fehlerhafte, der Poet ohne Bühne. Dann reicht er mir am Ende diese Krone – aus Blei.»

David schüttelte den Kopf. «Aber ich habe ihn nicht getötet.»

«Und doch gibt es Fingerabdrücke auf der Statue.»

«Ich habe sie ihm gezeigt. Ich wollte sie ihm schenken. Als Zeichen. Dass ich Frieden will. Danach bin ich gegangen.»

Emil glaubte ihm. Nicht aus Mitleid, sondern weil die Geschichte vom Brudermord zu glatt war. Es gab da keine Widersprüche. Und die Wahrheit hatte Widersprüche, so hatte es das Leben Hartmann gelehrt.

***

Die Lösung kam aus einem unscheinbaren Hinweis, völlig unerwartet, so als würde sich der Zufall all den Ermittlungsarbeiten der letzten Tage mockieren: Die Haushälterin hatte ausgesagt, Janos habe in den letzten Wochen häufig Besuch von einer jungen Frau gehabt. Keine Geliebte. Eine Praktikantin, angeblich. Ihre Anstellung war jedoch nirgends registriert.

Livia fand sie über eine Spesenabrechnung – Miriam Jäger, 27. Tochter einer ehemaligen Angestellten der Falkenberg AG. Ihre Mutter wurde damals wegen angeblicher Veruntreuung gefeuert – später beging sie Suizid. Kein Beweis, aber ein Motiv. Die Mutter hatte sich über beide Ohren in den erfolgreichen Industriellen Falkenberg verliebt. Doch der benutzte sie und liess sie schliesslich fallen. Wie ein altes Spielzeug, das seinen Reiz verloren hatte.

Ein DNA-Test bestätigte es. Miriam hatte den zerbrochenen Fotorahmen in der Hand gehabt. Ihre Fingerabdrücke waren an der Tatwaffe.

Sie hatte Janos zur Rede gestellt. Er hatte sie ausgelacht. Und sie hatte zugeschlagen.

«Ich wollte ihn nicht töten», sagte sie unter Tränen. «Ich wollte nur, dass er aufhört zu grinsen.»

***

Emil Hartmann beendete seinen letzten Fall an einem Freitag. Die Sonne ging gerade unter über dem See, als er den Schreibtisch räumte. Keine grossen Reden, keine Torte, kein Applaus. Nur ein Händedruck von Livia.

«Wirst du es vermissen?», fragte sie.

«Nicht die Arbeit. Aber die Wahrheit schon, die ist meist anders, als man glaubt.»

Hartmann trat hinaus in die laue Sommerluft. Die Schatten wurden länger. Er atmete tief durch – die Luft fühlte sich auf einmal so leicht an.

 

Kain und Abel in der Bibel

Ein Bauer erschlägt in einer entfernten Landesgegend einen Hirten. Täter und Opfer sind Brüder, zwischen den Beiden herrschte seit Jahren ein gespanntes Verhältnis. Der Bauer verbot dem Hirten, die Schafe auf seinem Land weiden zu lassen. Aber der Hirte brauchte in der Trockenzeit einen Teil dieses Weidegrunds für seine Tiere. Zudem konnte der Bauer sein Besitzrecht nicht nachweisen. Er beharrte lediglich darauf, weil er der Ältere war.

Beide Brüder galten als fromm und arbeitsam. Aber es kamen Jahre, da hatte der Bauer schlechte Ernten, der Hirte hingegen schönen Erfolg. Der Bauer hielt das für ein Zeichen, dass sein Bruder bei Gott bessere Karten habe als er selber. Diese wahnhafte Vorstellung machte ihn rasend vor Zorn und Verzweiflung. Er wollte mit dem Bruder reden. Ein Wort gab das andere. Als alle vernünftigen Argumente versagten, rastete der Bauer aus und erschlug den Hirten mit einem Holzscheit.

Bibeltext zum Nachlesen (1 Mose 4)

Zu den einzelnen Kriminalfällen bietet die Serie «Biblische Tatorte» des Thurgauer Kirchenboten eine Auslegung. Im Jahr 2025 beleuchtet dieser jeden Monat ein Verbrechen aus der Bibel und fragt: Was sagen uns diese Schauplätze heute?

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