Retten oder loslassen?

von Isabelle Kürsteiner
min
01.05.2025
Alles begann mit der Nachbarin unserer Autorin Isabelle Kürsteiner. Ihre Tochter gehörte zur fliegenden Zunft und musste für ihren Job immer wieder neue Kleider kaufen.

Eines Tages kam Frau Keller zu mir und schenkte mir eine Seidenbluse von ihrer Tochter. Ich liebte das gute Stück! So sehr, dass ich mir mehrere davon wünschte, denn das Original begann sich zwecks übermässigen Gebrauchs langsam aufzulösen. Überall suchte ich nach Ersatz. Nichts wollte mir so richtig gefallen. Dann bereiste ich Thailand. Obwohl nicht mehr tragbar, konnte ich meine wunderbare Bluse noch nicht wegwerfen. Ich überlegte schon seit längerem, was ich aus ihr noch basteln sollte oder wie ich sie noch einmal «büeze» könnte. Also packte ich das vom Alter durchscheinende Stück ein und liess mir in Thailand drei gleiche Blusen in verschiedenen Mustern aus Seide anfertigen. In der Schweiz hätte ich sie mir mit meinem MPA-Gehalt nicht leisten können.

Flinke Näherinnen machten es möglich

Doch in Thailand wurden sie nicht nur fachfraulich geschneidert und genäht, sondern auch mit viel Liebe zum Detail. Und ich trug sie von nun an immer. Abwechselnd. Jahrein, jahraus. Im Sommer kühlten sie perfekt, im Winter waren sie gross genug, um einen leichten Rollkragenpullover oder ein T-Shirt darunter zu tragen. Nicht nur ich liebte sie, auch andere. Denn eines Tages war die eine Bluse aus der Turnumkleide verschwunden. Ich war traurig, wütend. Abwechslungsweise. Immer wieder einmal fragte ich mich, wie ich reagieren würde, wenn der «Langfinger» plötzlich vor mir stehen würde. Doch dann konnte ich mich auf einmal darüber freuen, dass ich ein Schmuckstück besessen hatte, dass nun hoffentlich auch jemand anderem die gleiche Freude bereitete wie mir.

Die zwei Weitgereisten

Und die zwei übriggebliebenen Blusen waren immer dabei. Auch auf meinen Reisen. Sie haben wohl knapp 20 Länder zusammen mit mir erlebt. Könnten sie schreiben, würden sie Bücher füllen. Nun sind sie alt, sehr alt geworden. Haben mich vor Wind und brennender Sonne geschützt, waren dabei bei Velofahrten, auch im ärgsten Regen, oder auf Wanderungen bei schönstem Sonnenschein. Sie begleiteten mich bei hochinteressanten Aufträgen, als ich über spannende Personen und einzigartige Anlässe berichten durfte. Und, sie wurden schon x-fach gewaschen, blieben aber in den Farben schön. Alt sind sie. Ja. Doch was heisst schon alt. Gerade vor einem Jahr bewunderte eine junge Frau mein Oberteil und wollte wissen, wo ich sie gekauft hätte. Das Muster sei mega. Topmodern! Na also, alles kommt immer mal wieder in Mode.

Wie weiter …

Vor drei Tagen nun streifte ich mir das gute Stück über und zog dabei leicht an ihr. Da geschah es! … Ich spürte es, hörte es, konnte es kaum glauben. Meine Lieblingsbluse, sie hatte einen 5 Zentimeter langen Riss, auf der Vorderseite, entlang einer aufgenähten Tasche. Ohjee! Was nun? Bald wollte ich sie einpacken, um nach einem längeren Unterbruch wieder einmal ins Ausland zu verreisen. Erstmals ohne meinen Liebling? Oder ist da doch noch etwas zu machen? Kann ich sie noch einmal retten für ein weiteres Jahr des Zusammenseins? Nun, die Zukunft wird es weisen. Fäden, Aufnähmotive und Klebeband lassen meine Fantasie hüpfen und ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie ich sie ein weiteres Mal flicken kann.

Sie bemerken, loslassen ist nicht meine Stärke! Da ist noch viel Luft nach oben!

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