Etwas Neues wird kommen

Palliative Kirche

von Lars Syring
min
11.04.2023
Unsere Kirche macht einen palliativen Eindruck. Abschied nehmen, loslassen. Trauern. Das wird immer wichtiger. Und ganz klar: Es wird keine Wiederbelebung geben. Aber eine Auferstehung.

Carl Gustav Jung, der grosse Lehrer der Analytischen Psychologie, hatte als Kind eine Vision. Er sah etwas, das nur für ihn bestimmt war. Er lebte damals in Basel. Die Schule war vorbei. Auf dem Weg nach Hause kam er am Münster vorbei. Und dann stieg in ihm ein Bild auf, das ihn sehr erschreckte. Er wollte es zur Seite schieben und verdrängen. Aber es kam immer wieder an die Oberfläche.

Erst Jahre später konnte er das Bild wirklich zulassen und hat aufgeschrieben, was er damals gesehen hatte: «Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf einem goldenen Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander.» Diese Vision hat Jung ziemlich mitgenommen. Was das für sein persönliches Leben bedeutet, lassen wir seine Sache sein. Aber wenn wir uns realistischerweise unsere Kirche angucken, dann trifft das Bild auf die derzeitige Situation zu, die sich seit Jahrzehnten zuspitzt. Wir leben mitten in dem herunterfallenden «großen Exkrement». Tatsächlich hat es bereits die Turmspitze getroffen; die Mauern der Kirchen im Westen brechen auseinander. In vielen Teilen ist das ein regelrechtes Erdbeben.

In diesem Jahr erreichen wir statistisch gesehen den Punkt, an dem weniger als die Hälfte der Bevölkerung der Schweiz einer christlichen Kirche angehört. In weiteren fünfundzwanzig Jahren wird es einen Großteil des abendländischen Christentums, wie wir es noch gekannt haben, nicht mehr geben. Die Statistik spricht eine klare Sprache. Und ich sehe keine Perspektive, die eine Trendwende einleiten könnte. Ich habe bisher auch noch niemanden gefunden, der wüsste, wie so eine Trendwende eingeleitet werden könnte. Wir brauchen uns dazu bloß an einem gewöhnlichen Sonntag in den meisten unserer Kirchen umzusehen. Wer wird in 25 Jahren noch darin sein?

Was also können wir tun? Mir begegnen drei Reaktionen. Erstens: Leugnen, dass es ist, wie es ist. Zweitens: Hyperaktivität als Rettungsversuch. Und drittens: Du kannst fragen, was neu geboren werden möchte. Was verlangt von uns, dass wir unsere Sichtweise radikal neu ausrichten? Was ist dieses Neue, das bei uns von tief innen heraus und auch aus der innersten Tiefe der kollektiven Seele des Christentums aufzutauchen versucht?

Wie ich jetzt ausgerechnet von Jungs Vision zur Geburt komme? Eine Hebamme hat mir erzählt, dass fast immer vor der Geburt das «Exkrement» komme. Also: Was müssen wir loslassen, damit eine neue Geburt stattfinden kann? Wie können wir Geburtshelfer:innen werden, die den Weg bereiten?

John Philip Newell, ein ehemaliger Leiter der Iona Community in Schottland hat sehr eindrucksvoll eine Szene geschildert, bei der ihm in unserem Zusammenhang die Augen aufgegangen sind: «Hier auf Iona befinde ich mich am Sonntagvormittag in der Klosterkirche. Es sind Menschen aus vielen Ländern anwesend. Ich vermute, die meisten von ihnen sind als Pilger gekommen, das heißt, als solche, die nach neuen Anfängen suchen, oder Inselbewohner, meistens Bauern und Handwerker. Wir sind hier, um gemeinsam um neue Anfänge zu beten. Aber wenn ich mich umsehe, merke ich auch, dass der Großteil von ihnen weißhaarig ist. Uns alle mögen bestimmte Sehnsüchte an diesen Ort gebracht haben, aber dennoch zeigt auch diese Versammlung das Ende einer Ära an. Die Liturgie wird von fähigen und eindrucksvollen Frauen gestaltet – aber wo sind die Männer? Auch als es so weit ist, dass Brot und Wein für das Abendmahl zum Altar getragen werden, sind daran nur Frauen beteiligt. Das ist die genaue Umkehrung des tragischen Ungleichgewichts zur Zeit der Vorherrschaft der Männer, von dem die christlichen Kirchen so viele Jahrhunderte hindurch belastet waren. In der Vergangenheit hätte mich diese ungleiche Verteilung gestört. Hätte man denn nicht ein oder zwei Männer finden können, die auch dabei mitgemacht hätten? Aber dieses Mal beginnt sich etwas anderes in meinem Herzen zu regen. Statt eine Abendmahlsprozession vor Augen zu haben, empfinde ich das jetzt mit einem Mal als Begräbnisprozession. Mir ist, als würden nicht mehr Brot und Wein zur sakramentalen Feier nach vorn getragen, sondern vor den Augen meiner Seele steht da jetzt das Bild, dass derzeit die Kirche als Leib Christi zu Grabe getragen wird.»

«Diese Vision», so schreibt er weiter, «ist schön und zugleich schmerzlich. Mir kommen beim Zusehen die Tränen. Was für eine ergreifende Schönheit! Die Frauen sind vor dem Tod nicht geflohen. Sie geleiten diesen Leib gläubig und mit Sorgfalt und Ehrfurcht – und mit so großer Trauer... Das ist der Tod. Diese Form wird nicht weiterbestehen. An diesem Punkt stehen wir. Wir sind aufgefordert, angesichts des Todes der Christenheit, wie wir sie gekannt haben, nicht zu fliehen. Nicht nur die Frauen sind aufgefordert, stark zu bleiben. Es ist genau diese weibliche Tiefe der Treue in uns allen, die sich als echt erweisen soll. Wir brauchen durchaus nicht die große Mehrheit derer zu verurteilen, die weggelaufen sind und sich inzwischen ihre Nahrung anderswo suchen. Verantwortlich dafür ist die ganze Christenheit; es liegt nicht nur an den Einzelnen, die nicht mehr zum Familientisch kommen. Sie kommen nicht mehr, weil sie nicht genährt worden sind. Man hat ihnen nicht die geistliche Nahrung gereicht, die sie hätte stärken können. Ein Grossteil dessen, was sich innerhalb der vier Wände unseres kirchlichen Lebens liturgisch, theologisch, spirituell abspielt, ist für die große Reise, auf der sich unsere Erde heute befindet, irrelevant, und auch für die drängendsten Sorgen der Menschheit. Dennoch sind wir aufgerufen, nicht zu fliehen. Aber wenn wir bleiben – und das mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Trauer –, sind wir dennoch nicht dazu aufgefordert, die Tatsache zu leugnen, dass der Tod bevorsteht, und wir müssen auch nicht die bedeutungslosen und zuweilen sogar falschen Dinge, die zum Kollaps geführt haben, verteidigen.»

Soweit die ehrliche Analyse des ehemaligen Iona-Leiters. 2014 hat er das geschrieben. Was bleibt also zu tun? Mir hat es sehr geholfen, der Situation so offen entgegenzutreten. Es ist, wie es ist. Jegliche Hysterie oder Aktivismus ist fehl am Platz. Wenn ich den Zustand der Kirche angucke, macht mich das traurig. Und nicht nur ein bisschen.

Aber durch die Vision von C.G. Jung kann ich inzwischen anders damit umgehen. In dem Erdbeben, das unsere Kirche erschĂĽttert, kann ich schon die ersten Geburtswehen entdecken. Sicher: noch ist es nicht so weit. Es wird noch dauern. Lange. Noch werden wir aushalten mĂĽssen. Und einander in diesem Trauerprozess begleiten. Aggressionen werden sich Bahn brechen, so wie in jedem Trauerprozess.

Und dabei erinnern wir uns, die Geschichten von der Auferstehung Jesu erzählen dasselbe: Der auferstandene Christus war nicht mehr an der Stelle zu finden, wo Jesu Leichnam hingelegt worden war. Im Grab war er nicht. Die Erzählungen berichten nicht von seiner Wiederbelebung – sondern von seiner Auferstehung!

Es geht also – auch was Kirche betrifft – nicht darum, die alte Form wieder zu beleben. Sondern um etwas Neues, um etwas, das wir uns überhaupt noch nicht vorstellen können. Um etwas, das aus dem Tod erst neu entsteht. So ist die Welt. So ist alles, was von Gott geschaffen wurde. Es findet immer seine neue Form. Es entfaltet sich zu etwas, das zuvor noch nie war. Und es wird sich weiter entfalten.

Mit dieser Perspektive geht es mir besser. Ich freue mich auf das, was da zur Welt kommen will. Und ich versuche mich schon jetzt in den Strom zu stellen, der alles Leben durchströmt. Ich gehe zur Quelle und tanke auf, damit ich vertrauen kann, dass nichts dich und mich trennen kann von der Liebe Gottes. Sonst wäre das ganze ja gar nicht auszuhalten.

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