Was macht einen Mann zum Mann?

Mann - männlich - Männlichkeit(en)?

von Ari Lee
min
29.10.2023
Was macht einen Mann zum Mann, oder wann ist ein Mann ein Mann? Diese Frage hat sich wahrscheinlich kaum jemand, der als solcher aufgewachsen ist, gestellt. Denn er ist es einfach. Aber jenseits der körperlichen Gegebenheiten, was macht einen Menschen zum Mann?

Es gibt Eigenschaften, welche als «typisch männlich» beschrieben werden – aber Hand aufs Herz, können diese nicht eigentlich auf alle Menschen zutreffen und werden nur je nach Gesellschaft und Erziehung an manchen Menschen (Männern) besonders hervorgehoben und geschätzt, und an anderen Menschen (Frauen) weniger, und umgekehrt? Was macht einen Mann also zum Mann? Wie er sich im Raum bewegt, welchen Platz er einnimmt, wie er sich verhält? Was ist maskulin, was ist männlich, und gibt es vielleicht sogar mehrere «Männlichkeiten»?

 

Das sind Fragen, die sich jemandem der von klein auf als Mann aufwächst wahrscheinlich nicht stellen, jemandem wie mir jedoch sehr wohl. Dieses «Ich», das ist Ari Lee, 47 Jahre alt. Ich bin Two-Spirit – dazu komme ich später. Ich bin ebenfalls trans männlich und somit als Mädchen aufgewachsen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich nicht so bin wie die anderen Mädchen um mich herum, nur fehlte mir das Vokabular, um dies auszudrücken. Über Transidentität und all diese Dinge sprach man damals nicht. Eines Tages stellten sich mir die Fragen der Identität, und ich begann meine Transition in Richtung Männlichkeit. Damit begannen auch die Fragen: was ist ein Mann, was macht ihn aus? Gibt es nur eine Art, männlich zu sein? Wie maskulin muss ich sein? Ich war mit einem bestimmten Bild von Mann-sein gross geworden, und in dem christlich-freikirchlichen Umfeld, in das ich später kam, wurden diese Bilder noch verstärkt, und dazu kamen reichlich Stereotype durch Medien und Gesellschaft.

 

Will ich diese Stereotypen übernehmen oder nicht? Als trans Person wird man häufig danach beurteilt, wie gut man in das binäre Schema von Mann oder Frau passt, zunächst äusserlich, aber dann auch verhaltenstechnisch. Aber muss ein Mann stark, viril, bärtig sein, breitbeinig daher laufen und ganz bestimmte Eigenschaften an den Tag legen? Da mir als trans Mann nur zu leicht «vorgeworfen» werden kann, gar kein «richtiger» Mann oder nicht männlich genug zu sein, besteht die Versuchung, besonders männlich sein zu wollen und gerade diese Stereotype nachzuahmen. Ähnlich liegt es manchmal mit manchen schwulen Männern, denen auch vorgeworfen wird, im Grunde keine «richtigen» Männer zu sein.

 

Was mache ich nun damit? Ich kann das Ganze als Problem oder als Chance sehen. Mein trans-sein allein ist schon ein Überschreiten der etablierten Normen. Umso mehr meine Existenz als schwule trans männliche Person. Dadurch habe ich die Möglichkeit, meine Männlichkeit neu zu definieren: nicht nach den gängigen, von der Gesellschaft vorgegebenen Normen, sondern nach meinen eigenen.

 

Ich erwähnte oben, dass ich Two-Spirit bin. Dies ist eine Bezeichnung für indigene Menschen, die aus den Hetero Normen herausfallen und eine andere Identität haben, die gleichzeitig mit Kultur und Spiritualität verbunden ist. Sehr grob gesagt könnte man sagen, dass eine Two-Spirits gleichzeitig weiblich und männlich ist. Auch sind traditionelle indigene Männlichkeiten anders angelegt als die, die später von weissen Siedlern aufgezwungen wurden. Beide Geschlechter mussten oft alle Tätigkeiten lernen – auch die, die man heutzutage eher dem anderen zuschreiben würde. Indigene Männlichkeit war und ist auf Beziehungen und den Erhalt von Beziehungen ausgelegt: Alle sind meine Brüder, alle sind meine Schwestern, alle sind meine Ältesten. Gleichzeitig war und ist Männlichkeit nicht nur auf Männer beschränkt, so wie Weiblichkeit nicht nur auf Frauen beschränkt war: männliche Frauen und weibliche Männer.

 

Diese Dis-identifizierung mit gängigen Ideen und Stereotypen von Männlichkeit und was oder wie ein Mann sein sollte in der westlich-christlich geprägten Gesellschaft bringt unendlich viele Möglichkeiten für neue Männlichkeiten: harte oder weiche, feminine oder maskuline ohne jeweils die Männlichkeit oder das Mann-sein einer anderen Person anzugreifen oder zu leugnen. Es bringt Freiheit mit sich – nicht nur für trans männliche Menschen wie mich, sondern für alle, die sich männlich oder als Mann identifizieren.

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