Hoffungsbotschaft

Luzia Sutter Rehmann: Was die Evangelien in Zeiten von Krieg und Trauma lehren

von Carmen Schirm-Gasser
min
29.10.2025
Die Theologin Luzia Sutter Rehmann liest die Evangelien als Antworten auf Krieg, Zerstörung und menschliches Leid. Ihre Botschaft: Sie zeigen Wege aus der Verwüstung – damals wie heute.

«Die Evangelien entstanden im Schatten eines Krieges – und zeigen Wege zu Heilung und Hoffnung. Sie sind mehr als historische oder religiöse Texte, sie sind spirituelle Wegweiser», sagt Professorin Luzia Sutter Rehmann. In ihrem Vortrag am 29. Oktober in Neuhausen erläutert sie, wie die Schriften nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. entstanden sind. «Alle vier Evangelien sind nach diesem Krieg geschrieben worden.» Dabei geht es um existenzielle Fragen: Wie leben, wenn alles zerstört ist? «Die Auferstehung ist eine Antwort, einen Weg zu finden. Markus beginnt mit diesem Blick: ‹Wo anfangen, wenn alles verwüstet ist?› Für die Menschen der damaligen Zeit war diese Frage lebensentscheidend. Die Evangelien boten Orientierung, wie man trotz traumatischer Erfahrungen Zukunft gestalten konnte – und sind gerade heute, angesichts von Kriegen und Krisen weltweit, besonders relevant.»

Gewalt als historische Realität

Die historischen Hintergründe sind brutal. Der Krieg unter Kaiser Nero ab 66 n. Chr. destabilisierte die Region, jüdische Städte und hellenistische Gemeinden gerieten aneinander. «Truppen haben alles verbrannt. Gefangene wurden getötet – nur wenige wurden als Sklaven verkauft. Es war eine Lawine des Schreckens», so Sutter Rehmann. In diesem Kontext setzen die Evangelien an: Die Orte, an denen Grauen geschehen war, werden zu Handlungsräumen der Evangelien. «Jesus geht gezielt zu den Orten des Schmerzes an den See, nach Gerasa, Jericho, Jerusalem. Geografisch macht er Schlenker, die keine logische Reiseroute erkennen lassen. Aber historisch betrachtet führt ihn sein Weg im Markusevangelium dorthin, wo Menschen gelitten haben. Er erscheint nicht in einem weissen Gewand – das ist keine Sonntagsinszenierung. Jesus geht mitten hinein in die Realität des Schmerzes, in die Verwüstung nach dem Krieg.»

 

Die Geschichten von Geflüchteten und Traumatisierten ernst zu nehmen, schafft Lebensräume und Zukunft. Nur wer erinnert, kann in die Zukunft gehen.

Tiefes Verständnis für das Leiden

«Die Botschaft ist zutiefst spirituell: Zuwendung zu den Traumatisierten, Heilung im inneren und im äusseren Sinne. Die Evangelien zeigen ein tiefes Verständnis für menschliches Leid. Beispielsweise die Geschichte einer Mutter aus Tyros, deren Tochter leidet. Sie geht zu Jesus, wirft sich ihm zu Füssen – eine hochpolitische Begegnung zwischen Opfer und Täter. Denn die Frau gehörte zum Volk der Täter. Doch Jesus wendet sich auch diesen Menschen zu.» Für die frühen Christinnen und Christen geschah Heilung durch Wahrnehmung der Not, Begleitung der Menschen und das Aufzeigen von Wegen, die über die Traumata hinausführen. Dabei vermitteln die Evangelien, dass Zuwendung, Verständnis und praktische Hilfe untrennbar miteinander verbunden sind – ein Ansatz, der bis heute Gültigkeit hat.

Relevanz für die Gegenwart

Welche Lehren lassen sich daraus für heute ziehen? «Ein Schritt ist die Zuwendung zu Menschen in Not», sagt Sutter Rehmann. Geflüchtete, Traumatisierte – ihre Geschichten ernst zu nehmen, schafft Lebensräume und Zukunft. Ebenso wichtig sei die Erinnerung an vergangenes Unrecht und Gewalt: «Nicht einfach Gras über die Ereignisse wachsen lassen. Nur wer erinnert, kann in die Zukunft gehen.» Spirituell gesehen bedeutet dies auch, sich selbst zu öffnen, Mitgefühl zu üben und mit dem Leiden der Welt in Verbindung zu treten. Gerade angesichts der heutigen weltweiten Konflikte, der humanitären Krisen und der Klimakatastrophen wirken diese Botschaften besonders aktuell. «Wir erleben heute, wie Gewalt, Vertreibung und Naturkatastrophen Menschen traumatisieren. Die Evangelien zeigen uns, dass es dennoch eine Zukunft gibt – sie betonen Zuwendung, Gemeinschaft und spirituelle Orientierung», erklärt Sutter Rehmann.

Kirchen können diese Perspektive auf vielfältige Weise in die Friedensarbeit einbringen. Gemeinsames kritisches Bibellesen, interkulturelle Gottesdienste oder Engagement in Projekten für Migranten und Leidende ermöglichen Begegnung, Transformation und spirituelles Wachstum. «Eine Kirche, die Kontakt zu Menschen in Not hat, bleibt lebendig. Eine satte Kirche, die nur verwaltet, verliert den Impuls für die Zukunft», so Sutter Rehmann.

Besonders kraftvoll findet sie die Metapher des Weges, die Jesus auch für sich selbst benutzt. «Jesus sagt: ‹Ich bin der Weg› – wo wir doch so oft denken, es gibt keine Zukunft mehr. Kriege, Katastrophen, Klimakrise, der Boden wird uns unter den Füssen weggezogen. Doch der Weg, den die Evangelien anbieten, ist genau dieser: den Weg zu den Menschen zu gehen. Krieg hinterlässt Verwüstung und Zerstörung. Das älteste Evangelium beginnt mit dieser Verwüstung nach dem Krieg und führt die Lesenden im Schatten Jesu zu den Menschen, die leiden, die Hilfe brauchen. Dies eröffnet einen Weg für alle, es bedeutet spirituell wie praktisch: Heilung, Mitgefühl und Zukunft zu ermöglichen.»

 

Luzia Sutter Rehmann, 65, promovierte in Kassel (D) und lehrt heute als Titularprofessorin Neues Testament an der Theologischen Fakultät Basel. Sie engagiert sich in gesellschaftlicher Friedensarbeit in der Schweiz und in Deutschland. Ihr Zugang zu den Evangelien als «Nachkriegsliteratur» verbindet wissenschaftliche Präzision mit spiritueller Tiefe – und eröffnet überraschend aktuelle Perspektiven für unsere heutige Zeit.

Vortrag, 29. Oktober, 19.30 Uhr in Neuhausen im Zentrum St. Konrad: «Wege des Friedens – die Evangelien als Nachkriegsliteratur».

Lernhaus, 23./24. November, im Forum für Zeitfragen in Basel, «Gemeinsam durch das Markusevangelium».

Studientag für Frauen, Samstag, 24. Januar 2026, ab 9.30–16 Uhr, Haus der Begegnung, Bern, «Das Markusevangelium als Traumaliteratur».

www.luziasutterrehmann.ch

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