Kirche zu Hause

von Lars Syring
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01.12.2024
Kaum hatte der Bundesrat damals den Lockdown ausgerufen, war Lars Syring klar, dass er für seine Familie eine Struktur schaffen musste, die sie trägt. Sie wären sich sonst mächtig auf die Nerven gegangen.

Weil ich seit langem ein grosser Freund der Tagzeitengebete bin, habe ich meiner Familie vorgeschlagen, dass wir die neu entstandene Strukturlosigkeit so in den Griff kriegen könnten. Gott sei Dank hat sich meine Familie auf das Experiment eingelassen. Und so sassen wir drei Mal am Tag zu fixen Zeiten an unserem Esstisch und haben gemeinsam gebetet, Psalmen gelesen und gesungen.

Was für uns als Familie gut ist, wollte ich auch meiner Kirchgemeinde nicht vorenthalten. Ich habe zwei Hefte mit Vorlagen für Tagzeitengebete gemacht. Ein ganz klassisches für geübte Kirchgänger und Bibelleserinnen und ein eher niederschwelliges Format: «Kirche zu Hause». Dieses niederschwellige Heft haben wir als Kirchgemeinde Bühler an alle reformierten Haushalte verschickt.

«Halte die Ordnung und die Ordnung hält dich», habe ich von Benedikt gelernt, der eine der ersten Mönchsregeln aufgeschrieben hat. Und genau das haben wir erlebt. Die Ordnung, die uns unsere Tagzeitengebete vorgegeben haben, haben uns davor bewahrt, dass jeder in seinem eigenen Sumpf versinkt und untergeht. So wussten wir, wann wir uns wieder gemeinsam treffen und um den Tisch versammeln werden. Eine kleine Glocke, die neben unserem Esstisch hängt, war dabei sehr hilfreich. So war für alle klar, wann es wieder Zeit war, aus unseren Zimmern zu kommen.

Bei den Tagzeitengebeten sind alle beteiligt. Vieles wird im Wechsel gesprochen. Und die Rollen haben gewechselt. So sind wir nicht nur Gott ein Stück näher gekommen, sondern sind auch als Familie zusammengewachsen. Trotzdem haben wir nach dem Lockdown wieder damit aufgehört. Unsere Lebens- und Arbeitsrhythmen sind zu unterschiedlich. Schade. Aber ich bin zutiefst dankbar für diese Erfahrung.

Kirche lebt nicht zuletzt auch von Ritualen. Nicht alle sind so durchstrukturiert wie die gemeinsamen Gebetszeiten. Viele werden heute auch individuell angepasst. Dazu gehört nicht nur der Gottesdienst, der uns die Schönheit der Liturgie lehrt. An allen grossen Umbrüchen des Lebens eröffnet Kirche einen Raum, in dem unsere Lebenserfahrung geborgen ist, einen Schutzraum. Ob nun ein Kind geboren worden ist, jemand in die Pubertät kommt und die Schulzeit abschliesst, zwei Menschen heiraten oder wir einen Menschen zu Grabe tragen: Wir kommen zusammen und gehen diesen Schritt gemeinsam. Schon das Wissen, dass die Gemeinde, die Gemeinschaft mitträgt, ist eine grosse Kraft. Denn die Gemeinschaft trägt. Wir sind nicht allein. Wir sind aufgehoben. Und immer ist dieser Schritt über die Schwelle mit einem Segen verbunden. So wie in der Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok: «Ich lasse dich nicht los, bevor du mich segnest!». In den Ritualen geht es auch um die Auseinandersetzung, um den Kampf mit der Zwiespältigkeit. Zwischen zurückhalten und gehen wollen. Um Loslassen über die Generationen hinweg. Es geht auch um Vergebung. Und den neuen Anfang, der möglich wird.

Wir gehen aus den Ritualen anders heraus, als wir hineingegangen sind. Rituale sind, so wie das Abendmahl, Tankstellen, Rastplätze am Weg unseres Lebens. Wir halten an. Machen Rast. Tanken auf. Und gehen weiter. Verändert. Mit frischer Kraft.

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