Carel van Schaik in Liestal

Jesus war Jäger und Sammler

von Noemi Harnickell
min
05.10.2024
Der Anthropologe Carel van Schaik trat in Liestal auf, um sein Buch «Mensch sein» vorzustellen. Ein Vortrag darüber, was uns ausmacht und was Jesu Botschaft mit den Jägern und Sammlern zu tun hat.

Spätestens seit dem Jahr 2002 wissen wir alle, was ein Mensch ist. Dafür hat Herbert Grönemeyer gesorgt: «Der Mensch heisst Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt.» Genau in diesen Zeilen liegt jedoch auch die Krux der Sache, denn: Wir haben womöglich tatsächlich vergessen und verdrängt, was es heisst, Mensch zu sein.

Das zumindest schreibt der Anthropologe Carel van Schaik in seinem Buch «Mensch sein», das er am 10. September in der Kantonsbibliothek Baselland in Liestal vorgestellt hat. «Wir sind gefangen in Bildern», erklärt er. «Wir denken, dass wir wissen, was der Mensch ist und deshalb auch wie er sich zu benehmen hat. Dabei beschränken wir uns zu sehr auf das Heutige und sehen nicht, wie es früher mal war – und wie es wieder sein könnte.»

Kaum geboren, schon gesündigt

Carel van Schaik fängt bei Adam und Eva an. Glaubt man dem Schöpfungsbericht, war Gott ganz am Anfang der Dinge noch zufrieden. Aber kaum hat er die Menschen erschaffen, begehen sie auch schon die erste Sünde. Von da an scheint es nur noch bergab zu gehen mit der Menschheit. Kain tötet Abel und begeht den ersten Brudermord. «Wir sind also nun alle Nachkommen dieses ersten Mörders. Sie sehen schon, in welche Richtung das geht», sagt van Schaik mit einem Augenzwinkern.

Der Mensch, der sich nicht kontrollieren kann, der sexuelle, egoistische und gewalttätige Bedürfnisse hat und sie auslebt. Patriarchale Strukturen dominieren noch immer viele Gesellschaftsebenen.

In dieses Menschenbild hinein würden Philosophen, Schriftsteller und Gelehrte geboren. Sie verwendeten Begriffe wie «Erbsünde» und «Ursünde» und hielten an dem Glauben an einen strafenden Gott fest. Bis heute seien wir von diesem Bild geprägt. «Der Mensch, der sich nicht kontrollieren kann, der sexuelle, egoistische und gewalttätige Bedürfnisse hat und sie auslebt. Patriarchale Strukturen dominieren noch immer viele Gesellschaftsebenen», so van Schaik Und es falle uns schwer, zu glauben, dass es einmal anders war: dass die Männer nicht immer schon die Frauen unterdrückten, dass wir nicht immer schon Kriege führten und die Menschen nicht seit Urzeiten von Gier getrieben sind.

«Sharing is caring»

«Unser kollektives Gedächtnis», meint Carel van Schaik, «ist nur etwa 5000 Jahre alt. 99 Prozent der Zeit, in der es Menschen auf dieser Welt gibt, haben wir ganz andere Sachen gemacht, als in Städten zu leben, intensive Landwirtschaft zu betreiben und Kriege zu führen.» Ausserdem sei zu betonen, dass die Geschichte der letzten 5000 Jahre nicht von Frauen, Sklaven oder Kriegsgefangenen geschrieben wurde, sondern von reichen Männern.

Der Grundsatz der Jäger und Sammler lautete: ‹Sharing is caring!›

Seit rund 300`000 Jahren gibt uns Menschen als Art. Wir wüssten heute, dass Jäger und Sammler in Gruppen lebten und Freundschaften pflegten. Die Arbeit sei nach Geschlechtern geteilt gewesen, um die Kinder kümmerte sich das Kollektiv der Gruppe. Jeder sei gleichberechtigt gewesen. «In einem solchen Setting muss man egalitär sein, damit die Zusammenarbeit klappt», erklärt van Schaik. «Wenn man etwas gemeinsam macht, fühlt man sich schliesslich auch wohl dabei.»

Bestimmt habe es auch damals schon Ausprägungen von Egoismus gegeben, räumt van Schaik ein. Nur sei das halt eher ein Nachteil in einer Gruppe, in der jeder von jedem abhängig ist. «Dann will niemand mehr mit dir teilen», so van Schaik. «Und dann hast du ein Problem. Der Grundsatz der Jäger und Sammler lautete: ‹Sharing is caring!›»

Vorbilder inspirieren

Auch Jesus war gewissermassen ein Jäger und Sammler. Zumindest in seiner Botschaft und Lebensweise. «Die Jesusbewegung hat unglaubliche Ähnlichkeiten dazu», sagt van Schaik. «Er war in einer Gruppe unterwegs und lebte ohne Besitz. Und er setzte sich für Gleichberechtigung und mehr Gerechtigkeit ein.»

Indem wir vorleben, wie es sein könnte, wachen andere Leute vielleicht auf und schaffen in ihrer eigenen Umgebung die Veränderung, die sie brauchen.

Das berge letztlich auch etwas Hoffnungsvolles. Denn im Kern, glaubt van Schaik, möchten wir alle zurück zu den Jägern und Sammlern. Die Menschen suchten immer wieder nach neuen Ansätzen und liessen sich voneinander inspirieren. Wir setzten uns vermehrt für den Klimawandel ein, kämpften für die Gleichstellung von Frauen. Es sei ein langsamer Prozess, aber immerhin einer, der im Gange ist.

«Das Allerwichtigste, was wir auf allen Ebenen wieder herstellen müssen, ist das Vertrauen», sagt Carel van Schaik. Wie, das sei die grosse Frage. «Man kann Vorbilder schaffen», sagt van Schaik. Das sei zwar nicht die Lösung auf alle Probleme, aber ein Ansatz. «Viele Leute blicken mit Neid auf die Schweiz», sagt er. «Ich glaube, indem wir vorleben, wie es sein könnte, wachen andere Leute vielleicht auf und schaffen in ihrer eigenen Umgebung die Veränderung, die sie brauchen.»

 

«Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen» von Carel van Schaik und Kai Michel, erschienen 2023 bei Rowohlt. Im Buchhandel erhältlich.

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