Gerechtigkeit als Kompass
In der juristischen Ausbildung wird «Gerechtigkeit» fast wie eine heisse Kartoffel behandelt: schwer greifbar, zu emotional, keine juristische Kategorie. Als ich als Jus-Student in der Rechtsabteilung eines Unternehmens arbeitete, sagte ich in einer Teamsitzung spontan: «Das finde ich nicht gerecht.» An das darauf folgende Schweigen erinnere ich mich noch so gut wie an das die Stille unterbrechende nervöse Lachen meiner Vorgesetzten: «Das ist hier kein relevantes Kriterium.»
Â
Gerechtigkeit bleibt eine Annäherung
Ich will niemandem etwas vormachen: Ich habe Jus nicht «wegen der Gerechtigkeit» studiert. Ich bin kein juristischer Idealist, der glaubt, mit jedem Fall die Welt besser zu machen. Und doch: Wer Menschen vertritt, die sich in existenziellen Konflikten mit staatlicher Macht befinden – sei es in einem Strafverfahren oder im Asylverfahren – kann sich der Frage nach dem, was gerecht ist, letztlich nicht entziehen.
Ich gebe aber auch zu: Wenn ein Klient sehr auf «Gerechtigkeit» pocht (oft verbunden mit dem von Anwälten gefürchteten «ich gehe bis nach Strassburg!»), werde ich vorsichtig. Denn allzu oft zeigt sich: Es gibt sie nicht, die Gerechtigkeit. Die Erfahrung bei gerichtlichen Entscheidungen ist häufig die, dass keine Partei vollständig zufrieden ist. Beide Seiten erleben das Urteil meist bestenfalls als teilweise gerecht – ein Hinweis darauf, dass Gerechtigkeit meist nicht vollständig erreichbar ist, sondern immer eine Annäherung bleibt.
Â
Der Schleier des Nichtwissens
Die Philosophie kennt viele Gerechtigkeitstheorien – von Aristoteles bis John Rawls. Rawls schlug vor, sich bei der Frage nach Gerechtigkeit einen «Schleier des Nichtwissens» vorzustellen: Wir sollen uns eine Gesellschaftsordnung ausdenken, ohne zu wissen, welchen Platz wir darin einnehmen – arm oder reich, gesund oder krank, mit oder ohne Schweizerpass. Gerecht wäre, was wir auch dann als fair empfinden würden, wenn wir auf der verletzlichsten Seite dieser Ordnung stünden. Ein eindrücklicher Ansatz, der helfen kann, Fairness nicht nur aus der eigenen Perspektive zu denken.
Â
Den Blick schärfen
Auch in Religionen spielt Gerechtigkeit eine zentrale Rolle – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Teils ist sie eng mit festen Regeln und Geboten verknüpft, teils mehr als Haltung oder Zielvorstellung gedacht. Gemeinsam ist vielen religiösen Traditionen, dass sie den Blick auf das Gegenüber schärfen: auf Verantwortung gegenüber dem Nächsten, besonders gegenüber den Schwächeren. Im Christentum zeigt sich das etwa in der Haltung Jesu, der mit Ausgegrenzten sprach und nicht den Stab über sie brach.
Und dennoch: Gerade in der Geschichte der Religionen – im Christentum ebenso wie anderswo – finden sich zahlreiche Beispiele, wo der Glaube eher zur Rechtfertigung von Ungerechtigkeit diente als zu deren Überwindung. Religiöse Eiferer waren nicht selten auf der Seite der Macht, nicht auf der Seite der Menschlichkeit. Das sollte zumindest wachsam machen gegenüber jedem Gerechtigkeitsanspruch, der sich seiner Sache allzu sicher ist.
Â
Auslegung und Ermessensspielraum
In meinem Alltag als Anwalt ist Gerechtigkeit kein messbarer Endzustand. Aber sie bleibt ein Ziel. Nicht als Ersatz für das Recht und seine Anwendung nach allen Regeln der (juristischen) Kunst, sondern als ergänzende Orientierung – gerade dort, wo das Recht offen ist für Auslegung und Ermessensspielräume. Denn juristische Regeln sind fast nie so eindeutig, wie sie scheinen. Ich glaube, es ist gefährlich, wenn sich Juristinnen und Juristen ganz von der Idee der Gerechtigkeit verabschieden, sie meiden und für völlig irrelevant erklären – gerade in jenen Bereichen, wo es um existentielle Fragen und um Grundrechtseingriffe geht.
Gerechtigkeit mag keine juristische Kategorie im engeren Sinn sein. Aber vielleicht ist sie – trotz aller Unschärfe – das, was uns davor bewahrt, dass das Recht zur blossen Machttechnik wird. Sie bleibt, gerade deshalb, ein Kompass.
Svent Gretler
Sven Gretler ist Rechtsanwalt, Redaktor iusNet Migrationsrecht, Schulthess Juristische Medien AG, www.migrationsrecht.iusnet.ch und Mitautor Migrationsrecht, Praxisreihe Rechtsberatung, Bolzli/Rudin/Gretler, Schulthess, 2022
Gerechtigkeit als Kompass