Fairness in der Familie

Gerecht = fair?

von Judith Husistein
min
01.08.2025
Gerechtigkeit – ein Wort mit vielen Bedeutungen. In der Welt und im Zusammenleben von Menschen und Kulturen fehlt die Gerechtigkeit leider oft. Gerechtigkeit spielt jedoch auch in der Familie eine grosse Rolle.

Oft hat jedes Familienmitglied eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit und Fairness. Bereits kleine Kinder spüren Ungerechtigkeiten und empfinden Handlungen und Entscheide anderer als unfair. Spätestens in der Pubertät wird dieses Empfinden noch viel ausgeprägter. Jugendliche haben die Tendenz, überall Ungerechtigkeiten zu sehen. Eltern stehen, besonders in Familien mit mehreren Kindern, vor der Herausforderung, allen und sich selbst gerecht zu werden, was kaum möglich ist.

 

Bedeutet Gerechtigkeit Gleichheit?

Als unsere Kinder im Primarschulalter waren, erklärte mir eine Mutter von mehreren Kindern: «Uns ist Gerechtigkeit wichtig. Wir behandeln alle unsere Kinder gleich und haben alle genau gleich gern. Keines darf häufiger mit Gspänli abmachen als die anderen. Und wenn die Kinder Geschenke bekommen, schauen wir darauf, dass jedes Päckli genau gleich teuer ist.»

«Das ist bei uns nicht so», war mein erster Gedanke und ich fragte mich, ob es ein Versagen sei. Rasch wurde mir jedoch klar, dass diese «Buchhaltung» nicht aufgeht, nicht aufgehen kann.

Das Glas mit genau gleich viel Sirup zu füllen oder die Schokolade gerecht zu teilen, ist kein Problem. Doch Liebe in identischen Portionen zu geben, scheint mir unmöglich. Hat nicht jedes Kind andere Bedürfnisse und nimmt Situationen anders wahr? Während eines besonders viel körperliche Nähe sucht, wünscht das andere mehr gemeinsame Zeit, das dritte braucht Lob und Bestätigung und das vierte von allem etwas. Doch der Versuch, mit Zuwendung und Liebe dem Bedürfnis jedes Einzelnen gerecht zu werden, gelingt nicht immer. Selbst wenn wir unser Bestes geben, heisst das nicht, dass sich alle gerecht behandelt fühlen. Das Gleiche beobachten wir bei unseren Grosskindern. Nicht alle sind jederzeit zufrieden mit ihren Eltern oder mit ihrer Rolle im Kreis der Geschwister. Um sich ungerecht behandelt zu fühlen, braucht es oft wenig. Bei manchen reicht der Armbruch des Bruders oder die Kinderkrankheit der Schwester, um sich vernachlässigt und unfair behandelt zu fühlen, da die kranken Geschwister notwendigerweise mehr Aufmerksamkeit erhalten. «Ihr seid so ungerecht!», dieser Vorwurf trifft manchmal hart, besonders wenn er vom eigenen Kind kommt.

 

Gerecht werden und sein ist schwierig

Andrerseits erinnern sich wohl viele Eltern an Momente, in denen sie ihren Kindern wirklich nicht gerecht wurden. Mich brachten zum Beispiel die Monate mit einem Schreibaby an die Grenzen der Belastbarkeit. Ein Kind das stundenlang weinte, egal ob es hungrig oder satt war, im Bettchen lag oder auf den Armen der Eltern gewiegt wurde. Mütterberatung und Kinderarzt wussten keinen Rat. Diese Hilflosigkeit als Mutter war so belastend, dass ich manchmal im Garten arbeitete, um dem Weinen auszuweichen. Heute weiss ich, dass diese «Flucht» mich vielleicht davor schützte, die Nerven zu verlieren. Doch das Gefühl, dem Kleinen nicht gerecht worden zu sein, belastet mich auch nach Jahrzehnten noch. Und ich merke, dass ich mich manchmal frage, ob gewisse Verhaltensmuster unserer Tochter aus jener Zeit stammen.   

Jederzeit gerecht zu handeln sowie jeder Anforderung gerecht zu werden und zudem vom Gegenüber als gerecht empfunden zu werden, ist wohl einfach nicht möglich. Aber vielleicht reicht es ja, sich darum zu bemühen.

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