Gegen den «Analphabetismus»

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27.10.2022
Eltern können es ihren Kindern nicht mehr erklären, und in der Kirche herrscht beim «Unser Vater» jeweils bedrücktes Schweigen: Mit einer Aktion zur Reduktion des christlichen Analphabetismus soll nun Gegensteuer gegeben werden.

«Nicht nur das Klima wandelt sich, auch das Klima in der Gesellschaft verändert sich. Und die Folge davon ist eine regelrechte Christenschmelze», beobachtet Walter Studer seit Jahren. Anstatt jedoch dem gesellschaftlichen Wandel tatenlos zuzusehen, hat der Journalist Kontakt mit dem evangelischen Pfarrer Gunnar Brendler aufgenommen. «In erster Linie geht es darum, die Grundlagen des Christ-Seins und der Spiritualität wieder zu entdecken», erklärt Brendler von der Evangelischen Kirchgemeinde Kreuzlingen. Keck nennen sie ihre Idee eine «Aktion zur Reduktion des christlichen Analphabetismus». Einen ersten Kurs haben sie Ende Oktober zum Thema «Wie geht Beten?» durchgeführt. Denn mit dem Vergessen von Traditionen gehe eine Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Ethik einher. Heute sei es fast schon verpönt, davon zu sprechen, dass man bete. «Dabei ist unser ganzes freiheitliches Denken auf christlichen Werten begründet. Diese gilt es zu bewahren», ist Studer überzeugt. Brendler, der als Seelsorger in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen tätig ist, beobachtet im Menschen eine Suche nach dem spirituellen «Mehr». Das in den vergangenen Jahren explodierte Angebot an Meditationskursen und esoterischen Unterweisungen zeuge von diesem spirituellen Verlangen. Ihnen allen fehle jedoch die Kommunikation mit dem Göttlichen. Ihr Angebot richte sich deshalb nicht an die üblichen Kirchgänger, sondern vielmehr an Personen, die Interesse an ihrer persönlichen Beziehung zu sich und ihrer Seele haben. Da sind gerne auch Atheisten eingeladen. Denn es gehe überhaupt nicht darum, die Zahl der Kircheneintritte zu erhöhen, sondern vielmehr darum, den Menschen eine weitere Möglichkeit an die Hand geben, Erfahrungen zu machen.

Speed-Dating mit Gott
«Beten ist sehr individuell», ist Pfarrer Brendler überzeugt, «wir wollen den Leuten nicht überstülpen, wie sie zu beten haben. » Vielmehr soll ein Austausch über die verschiedenen Arten und Formen präsentiert werden. Es gebe noch viel mehr zu entdecken, als am Abend vor der Prüfung noch ein Stossgebet gen Himmel zu senden: «Das ist wie Speed-Dating mit Gott», sagt Studer scherzhaft, «dabei kann das Gebet viel mehr sein.» Deshalb sollen verschiedenen Formen wie die Fürbitte oder Arten von Gebetsformen vorgestellt werden. Wie jemand bete, welche Form er wähle, das sei jedem selbst überlassen. «Einige falten die Hände in Ruhe, andere laufen oder joggen dabei», weiss Brendler.

 

(Emil Keller)

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