Die Bergpredigt in der Gegenwart

Eugen Drewermann: «Frieden ist der Auftrag, für den Jesus alles eingesetzt hat»

von Noemi Harnickell
min
19.05.2023
Der bekannte deutsche Theologe Eugen Drewermann sprach in Sissach darüber, wie die Bergpredigt in Krisenzeiten zur Lösung von Konflikten beitragen kann.

Ukraine, Frieden, Bergpredigt. Es sind aufgeladene Begriffe, an die sich Drewermann in seinem Vortrag und der anschliessenden Fragerunde heranwagt. Wobei: Drewermann war noch nie einer, der vor kontroversen Inhalten zurückschreckte. Es genüge ja, sagt er, nur an den Frieden zu glauben und schon sei man politisch inkorrekt. «Doch Frieden ist keine leere Hoffnung. Er ist der Auftrag, für den Jesus alles eingesetzt hat.»

 

«Der letzte grosse Kopf der deutschen Theologie»

Eugen Drewermann, 1940 in Bergkamen im Ruhrgebiet geboren, ist ein Kind der Kriegs- und Nachkriegszeit, der Zerstörung und des Wiederaufbaus. Die Radikalität seiner Aussagen bringt ihm viel Kritik ein.

Aber er gibt auch Raum für Fragen. Welche Lehren können wir heute aus der Bergpredigt ziehen? Und: Ist die berühmteste Rede von Jesus heute überhaupt noch relevant?

«Eugen Drewermann ist der letzte grosse Kopf der deutschen Theologie», sagt Gerd Sundermann. Er ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Sissach in Thürnen und seit vielen Jahren mit Drewermann befreundet. Ein Ziel des Vortrags sei es gewesen, dem Publikum eine andere Perspektive zugänglich zu machen als nur jene, die so prominent in den Medien vertreten werde. «Wer das Wort ‹Frieden› in den Mund nimmt, wird sofort als naiv abgestempelt», kritisiert Sundermann. Alternativen zu Waffenlieferungen würden medial kaum besprochen. Wer dagegen ist, Waffen an die Ukraine zu liefern, gelte schnell als Russlandfreund. «Ich wünsche mir, dass wir von diesem Gut-Böse-Denken wegkommen und Platz für einen Diskurs schaffen.»

Es wird keinen anderen Weg zum Frieden geben als die Bergpredigt.

Drewermanns Stimmung legt sich über den ganzen Saal. Wann werden wir Frieden haben? Die Frage klingt wie ein Hilferuf von der Bühne herab. Haben wir den Frieden, wenn wir den Krieg zu Ende geführt haben? Wenn wir den nächsten Krieg zu Ende geführt haben? Oder den nächsten?» Emotion mischt sich in Drewermanns Stimme. «Es wird keinen anderen Weg zum Frieden geben als die Bergpredigt.»

 

Gewaltspiralen ein Ende setzen

Es sei die Angst, ist Drewermanns Antwort auf den Ursprung jedes Konflikts. Die Angst unterlegen zu sein, mangelndes Vertrauen in ein mögliches Miteinander. Diese Angst verleite uns dazu, grösser und stärker sein zu wollen, den Gegner weiter einzuschüchtern und den Frieden regelrecht zu provozieren. «Aber für den Frieden gibt es kein anderes Mittel, als die eigene Verletzlichkeit zu offenbaren.» Immerhin nehme Gott selber den Mörder in Schutz, um der Spirale von Hass und Gewalt ein Ende zu setzen.

Drewermann polarisiert, das weiss er selbst. Die Radikalität, mit der er auftritt, ist für Veranstalter und Publikum schwer zu antizipieren. Aber vielleicht muss ein Gespräch über den Frieden aufwühlen. «Ich höre oft», sagt Sundermann, «die Bergpredigt sei eine Utopie. Aber Jesus hat das ganz konkret gemeint.» Er reibt sich leicht über die Wange und lächelt amüsiert. «Wenn Sie jemand ohrfeigt, und Sie halten ihm auch noch die andere Wange hin – ich glaube, das würde fast jeden Angreifer so irritieren, dass er nicht noch einmal zuschlägt!»

Natürlich ist damit die Frage nach der Lösung des Ukraine-Konflikts noch nicht beantwortet. Aber zumindest im kleinen Rahmen könnte es ein konkreter, wenn auch unerwarteter Schritt in Richtung einer Streitschlichtung sein. Die Bergpredigt will vielleicht genau das: Aufwühlen, wo sich der Staub alter Meinungen abgelagert. Sie will ärgern und irritieren und die Menschen zum Nachdenken anregen. Eugen Drewermann ist unversöhnlich im Diskurs über Waffenlieferungen, aber zwischen der Härte seiner Worte dringt sein Wunsch nach Versöhnung unter den Menschen durch: «Die Goldene Regel», meint er, «sagt doch nichts anderes als: ‹Du möchtest keine Angst haben, dann sorge dafür, dass auch andere keine Angst haben müssen.› Wir müssen fühlende Wesen mit unseren Feinden werden.»

 

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