Engagieren wir uns!

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27.05.2021
Guter Rat und gute Tat der Freiwilligenarbeit sind nicht teuer, sondern schlicht unbezahlbar.

Generalstreik der Freiwilligen – fast wie Corona-Lockdown, nur schlimmer: Gassenküchen und Begegnungszentren machen dicht. Pfadi, Open Air und Quartierfest sind erledigt. Parteien finden keine Kandidierende, Vereine stehen ohne Vorstand da. Pfarrerin und Mesmer schmeissen Sonntagschule und Kirchenkaffee allein. Wikipedia geht offline, beim Sorgentelefon läuft der Anrufbeantworter. In der Nachbarschaft bleibt die alleinstehende Frau Schmid sich selbst überlassen, und wenn Familie Müller aus den Ferien heimkommt, sind Stubenpflanzen und Meerschweinchen verdorrt.

Grund zur Sorge?

Kein Zweifel: Den Ausfall dieses dichten Netzes von freiwilligem Engagement könnten auch die gewieftesten Geschäftsleute und die Maschen des grosszügigsten Sozialstaates nicht auffangen. Da beunruhigen die vielen Klagen, dass Freiwillige immer schwieriger zu finden seien.

 

Beim Spazieren, mitunter auf dem Klo können Marskrater katalogisiert, Abfälle entsorgt oder Sehbehinderten Packungsbeilagen vorgelesen werden.

 

Die Statistik zeigt aber ein insgesamt erstaunlich stabiles, differenziertes Bild: Während etwa in Sportclubs und öffentlichem Dienst die Freiwilligenzahlen tatsächlich sinken, steigen sie in Kultur-, Sozial- und Umweltvereinen.

Engagierte Schweiz

In der Schweiz übernehmen 39 Prozent der über 15-Jährigen unentgeltlich Aufgaben in der formellen Freiwilligenarbeit, also in Vereinen und Organisationen. Informell engagieren sich sogar 46 Prozent für Projekte und für Menschen, die nicht im gleichen Haushalt leben: Sie betreuen Kinder, umsorgen Betagte, leisten Nachbarschaftshilfe, gestalten Anlässe mit. Als Motiv für ihren Einsatz nennen Freiwillige am häufigsten den Spassfaktor, die Begegnung und den Wunsch, zu helfen oder gemeinsam etwas zu bewegen.

Veränderungen

Herkömmliche Freiwilligenarbeit ist stark vor Ort, in persönlichen Beziehungen verankert: Die meisten Ehrenamtlichen übernahmen Aufgaben, weil sie einfach angefragt wurden. Eine zunehmend mobile und anonyme Gesellschaft kommt hier an Grenzen. Gleichzeitig bieten Internet und soziale Medien sehr niederschwellige, überregionale Plattformen, wo passende Betätigungsfelder und potenzielle neue Freiwillige zueinander finden könnten – zwei Drittel aller, die noch nicht freiwillig aktiv sind, wären nämlich grundsätzlich interessiert! Viele scheuen aber heutzutage regelmässige, zeitintensive Verpflichtungen. Doch für sie gibt es extrem flexible, kurze Engagements («Micro-Volunteering»): In der Mittagspause, beim Spazieren, mitunter auf dem Klo können Marskrater katalogisiert, Abfälle entsorgt oder Sehbehinderten Packungsbeilagen vorgelesen werden.

Win-Win-Win

Familiäre Vorbilder, erste Erfahrungen schon in der Schulzeit und ein günstiges gesellschaftliches Klima mit vielfältigen Möglichkeiten für freiwilliges Engagement: Sie fördern unsere uneigennützige Seite. Freiwilligenarbeit hilft aber natürlich auch den Engagierten selbst, die meist sehr gute Erfahrungen machen und ihr Handeln als wirksam und sinnstiftend erleben. Sie hilft zudem Staat und Zivilgesellschaft, da freiwilliges Engagement erwiesenermassen Integration, Zusammenhalt und gegenseitiges Vertrauen stärkt. Und sie hilft natürlich den Unterstützten: von Menschen über Organisationen und Anliegen bis hin zu den Meerschweinchen der Müllers. 

Text: Philipp Kamm, Ebnat-Kappel | Foto: Michael Mosimann, Pixabay – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2021

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