Selbstgespräch mit Lars Syring

"Du bist ein Träumer"

von Lars Syring
min
24.01.2024
Lars Syring führte ein Gespräch mit sich selbst im Januar 2024, kurz nachdem die Magier sich auf den Rückweg gemacht hatten.

Guten Tag Lars. Heute haben wir ein schwieriges Thema. Wir reden über Frieden. Warum schaffen wir das nicht?

Naja. Die vergangenen Jahrzehnte waren eine sehr friedliche Zeit. Statistisch gesehen sogar die friedlichste in der Menschheitsgeschichte. In den frühen Agrargesellschaften war menschliche Gewalt für 15 Prozent aller Todesfälle verantwortlich. Im 20. Jahrhundert immerhin noch für 5 Prozent. Heute liegt die Quote bei einem Prozent.

Seit der Finanzkrise 2008 hat sich die Situation deutlich verändert. Kriege scheinen wieder en vogue zu sein. Und spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine läuft die Rüstungsindustrie auf Hochtouren. Das sind keine guten Perspektiven. Und die Konflikte in Berg Karabach und Israel & Gaza zeigen doch, dass die Situation eskaliert. Was können wir tun?

Soweit ich sehe, hat im Moment niemand ein funktionierendes Rezept. Die Spirale der Gewalt weiter zu drehen scheint Konsens. Grundfalsch, wie ich finde.

Jesus war doch ziemlich klar, oder? Wenn dir jemand auf die linke Wange haut, dann halt ihm auch die rechte hin. Liebt eure Feinde. Bittet für die, die euch verfolgen. Wer zum Schwert greift, kommt durch das Schwert um.

Im Gandhi-Film gibt es dazu eine schöne Szene. Gandhi geht mit einem Pfarrer durch die Strassen und sie reden genau über diese Haltung Jesu. Der Pfarrer ist davon überzeugt, dass Jesus das symbolisch gemeint hat. Er musste sich dann von Gandhi anhören, dass das durchaus nicht symbolisch gemeint ist. Er hat ihm gezeigt, wie das wörtlich umgesetzt werden kann. Das gehörte ja zu seinem gewaltfreien Widerstand. Gandhi hat genauso wie Jesus verstanden, dass seelische oder geistige Kraft stärker ist als alle Gewalt. Gewalt führt ja sonst immer nur zu noch mehr Gewalt. Die Kraft der Wahrheit, die das Gute sucht, ist ihr unendlich überlegen. Jeder Mensch will doch das aus seiner Sicht Richtige tun. Sogar dann, wenn er zur Gewalt greift. Die Gewaltspirale wird dort durchbrochen, wo ein Opfer von Gewalt nicht wieder selbst mit Gewalt reagiert. Er widersetzt sich, hält aber lieber den Kopf hin und nimmt Gewalt auf sich. So entsteht Raum für neue Wege. Und neben dem gewaltfreien Widerstand geht es immer auch um den Aufbau einer anderen, gerechteren Gesellschaft.

Ich habe neulich gelesen, dass amerikanische Forscherinnen gezeigt haben, dass gewaltfreie Aufstände doppelt so erfolgreich sind wie gewaltsame. Sie erreichen ihr Ziel schneller und mit weniger Opfern. Und das Erreichte hat sogar noch eine längere Haltbarkeit, als wenn mit Gewalt agiert wird.

Das liegt vermutlich daran, dass es beim gewaltfreien Widerstand nicht darum geht, den Gegner zu besiegen. Sondern ihn zu überzeugen, dass er falsch gedacht hat. Er hat also die Chance, dazu zu lernen. Das wahrt seine Würde. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen Person und Tat. Falsch ist die Tat, nicht die Person!

Das klingt ja alles toll. Aber wie lebt sich das konkret jetzt zum Beispiel in der Ukraine?

Das ist alles noch viel zu wenig erforscht, zu wenig ausprobiert[1]. Aber es hätte doch deutlich mehr Eindruck gemacht, wenn die Regierungsspitzen gleich am Anfang des Einmarsches in die Ukraine gefahren wären und eine Menschenkette gebildet hätten, anstatt Waffen zu liefern. Oder besser noch direkt vor dem Kreml demonstriert hätten.

Du bist ein Träumer.

Aber ich bin nicht der einzige.

 

[1] Ulrich Stadtmann beschreibt Ende 2022 in „Der Dom“ einen ersten Ansatz so: „In der Anfangsphase des Krieges waren das öffentliche Proteste, um zu signalisieren, dass die russische Propaganda nicht stimmt, nach der die Bevölkerung auf Befreiung durch russische Soldaten wartet. Durch die Bürgerproteste wurden sogar Bürgermeister befreit. Es gab auch Berichte vom Rückzug des russischen Militärs. In ­Cherson wurde der ukrai­nische Bürgermeister zunächst im Amt gelassen, damit die Stadt überhaupt funktionieren konnte. Später wurde die Verwaltungs­spitze ausgetauscht. In so einer Situation bedeutet soziale Verteidigung: Man arbeitet nur die Sachen ab, die für die eigene Bevölkerung lebensnotwendig sind. Denn natürlich müssen das Wasserwerk, die Krankenhäuser oder die Schulen funktionieren. Ansonsten folgen die Bediensteten weiter den Anweisungen der Untergrund- oder Exil-­Regierung ihrer Stadt. Man versucht, gegen alles zu handeln, was von den Besatzern befohlen wird oder bearbeitet es … besonders langsam oder missversteht etwas bewusst.“

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