Sommerserie: Bibelkrimis

Die Saat der Vergeltung

von Swantje Kammerecker
min
06.08.2025
Durch die Geschichte der Menschheit geistert die Vorstellung der Apokalypse, wie sie Johannes in der Offenbarung sieht. Doch was, wenn sie Realität wird. Der dritte Bibelkrimi unserer Sommerserie.

Niemand hatte diesen Sommer kommen sehen.

Statt Sonnenlicht: bleierne Wolken, rieselnde Rauchpartikel, die den Atem stocken liessen und das Hirn vernebelten. Statt Grillabenden: Warnungen vor giftigen Raupen in Gärten und Parks; neu entdeckte Riesen-Zecken mit tödlichen Viren, die sich den Menschen aggressiv näherten. Die Nachrichten: apokalyptische Litaneien, täglich neues Unheil.

Kommissarin Jara Wolf hielt nichts von Panikmache. Sie glaubte an Logik, an forensische Beweise und menschliche Vernunft. Bis zu dem Tag, an dem der Boden unter ihren Füssen zu beben begann – leise zuerst, fast wie das Grollen eines fernen Unwetters. Dann kamen die Risse.

***

«Sie glauben also, das alles begann mit einem Insekt?», fragte Jara und klappte ihr Notizbuch auf. Die Seiten schienen ihr plötzlich seltsam vergilbt – das Papier wie unter Schock gealtert.

Gegenüber: Professor Juri Marek, Insektenkundler, nervös und schweissgebadet. Seine Hände zitterten, während er an einem Glas Leitungswasser nippte, das längst nicht mehr kühl war. Um ihn herum piepsten Überwachungsmonitore, auf denen schwarze Schatten über Felder und Städte zogen. Sie bewegten sich wie Schwärme, zielgerichtet, koordiniert.

«Nicht ein Insekt. Eine Armee. Und wir haben sie gemacht.»

«Wir?», fragte Jara, Stirn und Nase gekräuselt.

«Die Menschheit. Wir haben zu viel verändert. Gentechnik, KI, DNA aus der Urzeit. Wir wollten Superfood, resistente Ernten, militärische Anwendungen. Jetzt sind sie hier. Und sie folgen keinem Programm mehr – nur einem Instinkt.»

***

Sommerserie Bibelkrimis

Biblische Geschichten erzählen von zeitlosen Konflikten: Eifersucht, Verrat, Machtmissbrauch. Diese Themen sind heute so aktuell wie einst. In der Sommerserie «Bibelkrimis» macht der «Kirchenbote» aus bekannten Bibeltexten Kriminalfälle der Gegenwart. Dabei zeigt sich: Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Vergebung bleiben aktuell.

Jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge: Mittwoch, 16., 23., 30. Juli, 6. August und 13. August.

 

In der Nacht spuckte der Vulkan. Ein sirrendes Leuchten in der Dunkelheit. Doch er stiess nicht nur Rauch, Asche und Feuer aus – aus seiner Tiefe drangen auch amorphe graue Schwaden und überzogen die Bucht von N. Mit Staub? Nein, es war etwas Lebendiges.

Riesige Wesen mit glänzenden Chitinpanzern krabbelten zwischen der Lava hervor. Ihre Beine klickten beim Aufprall auf Asphalt, als wollten sie den Takt einer neuen Zeit zählen. Ihre Facettenaugen, schillernd wie die Splitter zerbrochener Spiegel, reflektierten nicht nur das Licht – sondern die Ängste derer, die sie ansahen.

Die ersten Opfer starben nicht durch Gift – sondern durch die Erkenntnis ihrer selbst: Wahnsinn. Angst. Panikattacken, die zu Selbstverletzungen führten. Menschen rannten in Autos, stürzten sich von Dächern, sprangen in Flüsse, schrien um Hilfe, vergebens.

Das Militär riegelte die Region ab. Hochsicherheitszäune, bewaffnete Drohnen, Evakuierungszonen. Doch es war zu spät. Die Superinsekten krochen durch Ritzen, durchbohrten Metall, überflogen Grenzen und entgingen jeder Falle.

Jara suchte nach dem Ursprung. Die Spur führte sie in ein verlassenes Forschungslabor am Rand der Stadt, halb eingestürzt, überwuchert von Ranken, die hier eigentlich nicht wachsen sollten. Die Temperatur: 40 Grad – eine feuchte, stehende Hitze, die sich schwer auf den Brustkorb legte. Kein Strom. Keine Bewegung – ausser dem sachten Rieseln, mit dem hie und da einer der unzähligen leblosen Kokons zerfiel, die die Wände bedeckten wie makabre Tapetenmuster.

An einer Wand: ein verblasstes Whiteboard. Analysen von urzeitlicher Insekten-DNA, CRISPR-CAS-Protokolle, künstliche neuronale Netze. Quer darüber, ein roter, wie in Eile hingeworfener Schriftzug: «Das ist nicht die Evolution. Das ist die Saat der Vergeltung.» Im Nebenraum ein geöffneter Käfig. Reste eines zerrissenen Schutzanzugs. Und eine Tonbandaufnahme, die endlos wiederholte: «Es ist nur ein Test … es ist alles unter Kontrolle…»

***

«Das ist der Widersacher», flüsterte die Figur, die sich aus dem verkohlten Chorgestühl der ausgebrannten Kirche erhob. «Er, der gefallen ist. Er spricht durch sie. Die Insekten sind seine Werkzeuge. Seine Armee.» Das Kirchenschiff war in Finsternis getaucht; die Wände russgeschwärzt, die grossen Fenster mit Brettern vernagelt. Doch die Hände der Figur, die sich näherte, umschlossen, wie beschützend, etwas – von dem ein sanftes Leuchten ausging. Die Lippen der Figur bewegten sich wieder.

Jara aber hatte genug gehört von all den verrückten Geschichten und Theorien. Sie wandte sich ab, um die Kirche durch den Seiteneingang zu verlassen. Auf der Wache erwartete sie noch viel Arbeit. Da sah sie das Ding: ein Riesenskorpion, oder war es eine Heuschrecke? Handtellergross, krabbelte es ihr entgegen. Sie erstarrte. Die glänzenden Augen fixierten Jara, sogen ihren Blick ein.

Und Jara sah sich selbst – nicht nur als Spiegelbild. Sie sah Wut. Angst. Schuld. Fehler, die sie verdrängt hatte. Entscheidungen, die sie nie infrage gestellt hatte, aber nun bereute. Gespiegelt in sich selbst. Sie taumelte zurück, als hätte sie etwas berührt, das nicht für Menschen bestimmt war.

***

Nicht alle zerbrachen. Eine Gruppe von Menschen bewegte sich ruhig und gefasst durch die verwüstete Stadt. Ihre Kleider waren war schlicht, ihre Füsse staubig von den langen Wegen, aber ihre Gesichter offen und hell. Inmitten des Chaos trösteten sie, halfen Verletzten. Sie schienen die Insekten nicht zu fürchten. Manche von ihnen streckten sogar die Hand aus – und wurden verschont.

Sie sprachen von Liebe. Von Licht. Von der Hoffnung, die stärker sei als jedes Gift. Und davon, dass das Böse nur Macht habe, wo es willkommen war – wo es genährt wurde.

Einer von ihnen, ein altersloser Mensch, dessen Gesichtszüge Jara schon seit Ewigkeiten zu kennen glaubte, aber längst wieder vergessen hatte, sprach sie mit warmer Stimme an: «Du kannst wählen, auf welcher Seite du stehst. Nicht alles ist verloren. Noch nicht.»

***

Das Internet, die Satellitenverbindungen, waren verstummt; nur hie und da das Knistern eines Notfunkgeräts. Letzte Durchsage: «Unbekannte biologische Einheiten mit psychotroper Wirkung breiten sich exponentiell aus. Vermeiden Sie Augenkontakt. Militärischer Widerstand ist erfolglos. Die Bevölkerung wird zur Evakuierung aufgerufen.»

Jara stand inmitten der Trümmer, einst ein Marktplatz, nun ein Schlachtfeld aus Schutt und verbrannter Erde. Sie hatte überlebt. Oder war sie nur zurückgelassen worden, um zu berichten? Sie hockte sich auf einen Mauerrest, sah in den Sonnenaufgang – wenn man das fahle Licht so nennen konnte. «Die Ernte ist gekommen», schrieb sie in ihr vergilbtes Notizbuch: «Das Urteil hat begonnen, die Menschheit hat sich selbst ver…» Da spürte sie einen Schatten über sich, jemand nahm ihr das Notizbuch aus der Hand, gleissende Helligkeit durchflutete sie.

 

Das Buch der Offenbarung in der Bibel

Kapitel 9 der Offenbarung schildert eine Vision: Heuschrecken steigen aus dem Abgrund auf und quälen Menschen, die nicht das Siegel Gottes tragen. Sie verursachen Schmerzen, töten aber nicht. Diese Heuschrecken besitzen die Macht von Skorpionen und gehorchen Abaddon, dem Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund. Das Kapitel endet mit der sechsten Posaune, die vier Engel am Euphrat entfesselt. Diese töten einen grossen Teil der Menschheit.

Bibeltext zum Nachlesen (Offenbarung 9).

Zu den einzelnen Kriminalfällen bietet die Serie «Biblische Tatorte» des Thurgauer Kirchenboten eine Auslegung. Im Jahr 2025 beleuchtet dieser jeden Monat ein Verbrechen aus der Bibel und fragt: Was sagen uns diese Schauplätze heute?

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