Wie das Amen in der Kirche

Die Kraft der inneren Bilder

von Heinz Mauch-Züger
min
01.12.2024
Rituale gehören heutzutage zum Sport, wie früher das Amen in der Kirche. Sie können über Sieg und Niederlage entscheiden und ein Hinweis darauf sein, dass Rituale über den Sport hinaus von Bedeutung sind.

 

Wie versteinert sitzt sie da. Ihr Augen sind geschlossen, ihr Gesicht wirkt ernst. In ihr laufen ganz langsam Bilder ab. Sie sieht sich neben ihrer Anlaufmarke, sieht, wie sie anläuft, zwei Hüpfer am Anfang. Sie sieht, wie sie Geschwindigkeit aufnimmt. Sie sieht, wie sie den Absprungbalken trifft, wie sich ihr Körper vom Boden löst, sich streckt, wie die Beine nach vorne kommen und sich im Sand eingraben. Sie ist in wenigen Minuten mit ihrem ersten Sprung an der Reihe. Immer wieder springt sie ihn in ihrem Kopf und versucht dabei leichter zu werden, fliessender, befreiter.

 

Es ist ihr persönliches Ritual, bevor sie in den Wettkampf einsteigt. Andere machen es ähnlich, wieder andere ganz anders. Rituale sind im Sport zu entscheidenden Elementen geworden, die Einfluss auf den Sieg oder die Niederlage haben. Nicht mehr nur Muskelkraft und physische Trainingseinheiten bestimmen den Sportalltag, mentale, also geistig- psychische Elemente, haben in den vergangenen Jahren einen grossen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit erhalten.

 

Die Trainingsmethoden in physischen Bereich haben sich in den vergangenen Jahren vielfältig entwickelt und erlauben die gezielte Förderung. Daneben sind jedoch mit den sogenannten Mentaltrainern auch Elemente hinzugekommen, welche den Zusammenhang von körperlicher Fitness und persönlicher Befindlichkeit ernst nehmen und an der geistig-seelischen Form arbeiten. Hier kommen die Rituale ins Spiel. Rituale als persönliche Vorgehensweisen und Rituale als gemeinschaftliche Vorgehensweisen im Team.

 

Solche Rituale sind nicht nur vor einer Herausforderung, einem Wettkampf, einem Spiel, wichtig, sondern auch danach. Der Umgang mit Sieg und Niederlage, mit Euphorie und Enttäuschung will eingeübt und praktiziert sein. Denn nach dem Wettkampf ist vor dem nächsten Wettkampf.

 

Der Slalomfahrer, der mit geschlossenen Augen mit seinen Armen und Händen durch die Stangenkombinationen flitzt oder im Kopf als Abfahrer die Einfahrt in den Hundsschopf oder das Brüggli-S am Lauberhorn visualisiert, und dabei ruhig und tief einatmet. Das Fussballteam, das nach dem Spiel im Kreis zusammenkommt. Das Volleyballteam, welches sich vor dem Spiel abklatscht und während des Spiels, ob gelungener oder misslungener Spielzug, kurz im Spielfeld zusammenkommt, immer geht es darum, Stabilität für eine positive Entwicklung zu schaffen. Sportler*innen wollen gewinnen. Rituale helfen, mit persönlichen und, in Teams, mit gemeinschaftlichen Entwicklungen umzugehen und eine Stabilität zu schaffen, welche Erfolg ermöglicht und Misserfolg nicht zum Schicksal werden lässt.

 

Rituale im Sport sind Hinweise, dass es Elemente braucht, die gerade durch die immer gleiche Art, wie sie ausgeführt werden, die Grundlage schaffen, Herausforderungen zu meistern. Was im Sport in den vergangenen Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil geworden ist, gilt auch ausserhalb von Stadien, Lauf- und Rennstrecken und Sporthallen. Rituale als Elemente der Vergewisserung, der Achtsamkeit und der Einbettung von guten und schlechten Erfahrungen – im Sport von Siegen, Niederlagen, Verletzungen, im Leben von gelungenen Begegnungen, abgeschlossenen Vorhaben und von Enttäuschungen, Krankheit und Verlust.

 

Langsam steht sie auf und begibt sich zu ihrer Anlaufmarke. Ihr Körper wiegt vor und zurück, ihr Blick geht von den Zuschauerrängen hin zum Absprungbalken. Sie klatscht über ihrem Kopf und animiert das Publikum. Ein paar rasche Atemzüge, mit zwei Hüpfern läuft sie los und nimmt Geschwindigkeit auf. Der Moment der Wahrheit beginnt, als sie sich vom Boden ablöst und für Sekunden scheinbar schwebt.

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