Meron Mendel

«Das mildert das Leid der Bevölkerung in Gaza kein bisschen»

von Stefan Degen
min
28.06.2025
Meron Mendel ist eine der profiliertesten Stimmen in der Debatte zum Nahostkonflikt im deutschsprachigen Raum. Im Gespräch mit dem «Kirchenboten» erläutert der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, was er von Boykottaufrufen hält und wann Kritik an Israel antisemitisch ist.

Herr Mendel, vor rund einem Monat fand der Eurovision Song Contest (ESC) in Basel statt. Dabei forderten rund 70 Künstlerinnen und Künstler in einem offenen Brief den Ausschluss Israels. Was halten Sie von dieser Forderung?

Die Frage des Boykotts beschäftigt mich stark. Ich habe die israelische Regierung vor dem 7. Oktober 2023 und auch in den letzten Monaten aufs Schärfste kritisiert und stehe der palästinensischen Sache nahe. Doch gerade aus dieser Position finde ich wissenschaftliche und kulturelle Boykotte besonders problematisch.

Weshalb?

Die israelische Gesellschaft ist sehr heterogen. Es gibt starke oppositionelle Teile in der Gesellschaft. Das ist der Unterschied zu Russland, …

… das 2022 vom ESC ausgeschlossen wurde.

Genau. Künstlerinnen und Künstler, die aus Russland kommen und nicht emigriert sind, müssen Putin-treu sein oder sich zumindest Putin-treu geben. In Israel ist das ganz anders. Die grosse Mehrheit der israelischen Künstler und Wissenschaftlerinnen gehören zur Opposition.

Diesen Sender, der kritisch über die Regierung berichtet, zu boykottieren, würde Regierungschef Netanjahu in die Hände spielen.

Sie sind gegen den rechtsradikalen Kurs der israelischen Regierung und sprechen sich für ein Ende des Krieges in Gaza aus. Daher muss man sich die Frage stellen, ob durch Ausladungen und Boykott von Menschen, die in Israel die Opposition ausmachen, ein Beitrag für eine friedliche Lösung geleistet wird. Meine Antwort lautet Nein.

Der Boykottaufruf richtete sich genau genommen gegen den israelischen Rundfunk KAN.

Dieser Sender kämpft vehement um seine Unabhängigkeit. Nach dem Vorbild autoritärer Regierungen versucht die israelische Regierung, die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien einzuschränken. Diesen Sender, der kritisch über die Regierung berichtet, zu boykottieren, würde Regierungschef Netanjahu in die Hände spielen.

Meron Mendel

Meron Mendel, Jahrgang 1976, wuchs in einem Kibbuz im Süden Israels auf. Währen seines Wehrdienstes war er im Westjordanland und im Libanon stationiert. 2001 kam er nach Deutschland. Der Historiker und Pädagoge ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences. Mendel ist zusammen mit seiner muslimischen Frau Saba-Nur Cheema in zahlreichen Begegnungs- und Dialogprojekten engagiert. Beide wurden für ihr Engagement kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz und der Buber-Rosenzweig-Medaille geehrt.

 

Vor zwei Jahren ist Ihr Buch «Über Israel reden» erschienen. Seither ist die Situation im Nahen Osten eskaliert, durch den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 und die Kriege in Gaza, im Libanon und im Iran. Wie hat sich die Debatte dadurch verändert?

Mit dem 7. Oktober hat der Konflikt eine neue Dimension erreicht, vor Ort, und auch in der Debatte darüber in der westlichen Welt. Die Phänomene und Debatten, die ich im Buch vom März 2023 analysiert habe, sind dementsprechend heftiger, emotionaler und unversöhnlicher geworden. Aber die Grundthese stimmt nach wie vor: dass die Nahost-Debatte in Deutschland identitätsstiftend ist – für Deutsche. Es geht darin mehr um Fragen der Befindlichkeit der Menschen in Deutschland und viel weniger – zu wenig – darum, was die Menschen vor Ort in Israel und Palästina brauchen, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen.

Trifft diese Analyse auch auf die Schweiz zu?

Soweit ich das verfolge, ja. Der Israel-Palästina-Konflikt ist im öffentlichen Diskurs in der Schweiz sehr präsent, viel mehr als andere Konflikte. Als ich kürzlich in Zürich war, habe ich keine Aufkleber entdeckt zur Situation der Uiguren in China, zum Konflikt um Berg-Karabach oder zur Kontroverse um die Kaschmir-Region zwischen Indien und Pakistan. Aber ich habe jede Menge Sticker gesehen zu Gaza.

Gibt es auch Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz?

Der Unterschied liegt in der Erinnerungskultur und der Verantwortung der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des NS-Staates. Angela Merkel hat 2008 die Aussage geprägt, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson. Eine Entsprechung gibt es in der Schweiz nicht. Zwar war auch die Schweiz in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt, etwa bei der Verwaltung jüdischer Vermögen durch Schweizer Banken oder der Rückweisung von jüdischen Flüchtlingen. Mit dem Nahostkonflikt hat das aber nichts zu tun.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Nahostkonflikt wohl kaum in Europa gelöst werde, etwa durch kulturelle Boykotte und markige Stellungnahmen. Gleichzeitig sind aber Menschen in Europa echt betroffen durch das Leid, das der Konflikt verursacht. Sie fühlen mit den Angehörigen der israelischen Geiseln und der Zivilbevölkerung in Gaza mit. Was können sie tun?

Ich kenne dieses Ohnmachtsgefühl gut. Man sieht die Bilder von verhungerten Kindern in Gaza und will nur weinen. Jeder Mensch sollte diese Gefühle haben. Natürlich sind die Versuche von Hilfswerken wichtig, humanitäre Hilfe zu bringen. Ich persönlich bin seit vielen Jahren in Friedensprojekten engagiert. Das klingt in der gegenwärtigen Situation utopisch. Ich bin zum Beispiel immer wieder zu Besuch in einer Grundschule, wo palästinensische und jüdisch-israelische Kinder zusammen zur Schule gehen und Freundschaften schliessen. Das mildert das Leid der Bevölkerung in Gaza zurzeit zwar kein bisschen. Aber es ist eine gewisse Art Neuanfang und gibt Hoffnung, dass Israelis und Palästinenser in Zukunft friedlich zusammenleben können.

Zurück nach Europa. Wie gelingt hierzulande eine konstruktive Debatte zum Nahostkonflikt?

Es gibt in Europa Gruppen von Israelis und Palästinensern, Juden und Muslimen, die den Dialog führen und sowohl den Hamas-Angriff vom 7. Oktober als auch die Art und Weise kritisieren, wie der Krieg in Gaza geführt wird. «Standing Together» ist eine. Von solchen Initiativen brauchen wir mehr. Ich selbst organisiere zusammen mit meiner Frau immer wieder Konferenzen, wo wir Menschen mit sehr unterschiedlichen Positionen zusammenbringen.

Man muss nur die Schriften von Martin Luther lesen, da sieht man, wie stark Antijudaismus auch in der christlichen Tradition verankert ist.

Ziel ist nicht ein Konsens, kein Friede, Freude, Eierkuchen. Sondern dass die Menschen gemeinsam am Tisch sitzen und von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen statt nur in den sozialen Medien. Dagegen gibt es immer wieder Boykottaufrufe, von verschiedenen Seiten. Aber wir müssen weitermachen. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die den gegenseitigen Boykott befürworten, gewinnen.

Als Direktor der Bildungsstätte Anne Frank beschäftigen Sie sich nicht nur mit dem Nahostkonflikt, sondern auch mit Antisemitismus im Allgemeinen. Wie bekämpft man Antisemitismus?

Antisemitismus gibt es auch losgelöst vom Nahostkonflikt. Er hat unterschiedliche Ausdrucksformen. Man muss nur die Schriften von Martin Luther lesen, da sieht man, wie stark Antijudaismus auch in der christlichen Tradition verankert ist.

Indem man sagt, dass die Opfer von damals heute genauso schlimme Dinge tun, wie ihnen angetan wurden, möchte man sich von der Verantwortung in der Nazizeit befreien.

An der Bildungsstätte Anne Frank machen wir klassische Bildungsarbeit in Schulen, mit der Polizei, mit Behörden und in Kultureinrichtungen. Wir konzentrieren uns aber nicht nur auf Antisemitismus. Unser Augenmerk gilt vielen Formen von Diskriminierung, sei es Rassismus, Sexismus oder Feindschaft gegen Sinti und Roma.

Welche antisemitischen Stereotype haben derzeit Hochkonjunktur?

Die Stereotypen sind immer da und werden je nach Situation sichtbarer. In der Coronazeit zum Beispiel, dass die Juden sehr mächtig sind und hinter den Kulissen das Unheil auf der Welt steuern. Eine Verschwörungserzählung adaptierte dieses Stereotyp: Corona sei von Pharmakonzernen erfunden worden, um Profit zu generieren – und die Pharmakonzerne besässen natürlich die Juden. Ähnlich ist es mit israelbezogenem Antisemitismus. Da wird zum grossen Teil berechtigte Kritik am israelischen Vorgehen in Gaza zum Anlass genommen, antisemitische Stereotype wiederzubeleben.

Welche zum Beispiel?

Etwa die Gleichsetzung von Israel und Nazideutschland. Das hat eine gewisse Entlastungsfunktion: Indem man sagt, dass die Opfer von damals heute genauso schlimme Dinge tun, wie ihnen angetan wurden, möchte man sich von der Verantwortung in der Nazizeit befreien. Zeichen davon sind Israelflaggen mit Hakenkreuzen oder die Darstellung von israelischen Soldaten als Nazis. Oder es wird die Vorstellung verbreitet, dass Juden die Medien und die Wirtschaft kontrollieren und deshalb niemand Israel stoppt. Israelbezogener Antisemitismus führt dazu, dass in Europa Juden angegriffen werden, die mit dem Nahostkonflikt gar nichts zu tun haben.

Vortrag, Diskussion und Buch

Auf Einladung der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Ostschweiz hält Meron Mendel einen Vortrag mit anschliessender Diskussion in St. Gallen. Der Vortrag basiert auf seinem Bestseller «Über Israel Reden» (Kiepenheuer & Witsch 2023), in dem er die Debatte über den Nahostkonflikt im deutschsprachigen Raum analysiert.

Dienstag, 1. Juli 2025, 19 Uhr
Festsaal St. Katharinen, Katharinengasse 11, St. Gallen
Eintritt frei

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