Man sieht nur mit dem Herzen gut

Bodenständig und herzensnah

von Judith Husistein
min
01.08.2024
Mit dem Herbst kommt die Zeit der Viehschauen. Ein besonderer Tag für viele Bauernfamilien und zahlreiche Heimwehappenzellerinnen und -appenzeller. Wo ein Warenmarkt mit Karussell und weiteren Angeboten für Kinder stattfindet, wird er zu einem Begegnungs- und Freudentag für die ganze Bevölkerung.

Es ist ein wunderbares Bild, wenn ein Senntum ins Dorf einzieht. Voraus der «Gässbueb» und das «Gässmätli» mit den Geissen, dann die teilweise blumengeschmückten Kühe, begleitet von Sennen in der farbenfrohen Appenzellertracht, dem Bauern im braunen Gewand und seiner Familie, ebenfalls in traditionelle Trachten gekleidet. Was wie ein Umzug wirken mag, ist viel mehr als das. Es ist der Tag, an dem die bäuerliche Bevölkerung mit Freude und Stolz ihre Tiere zeigen darf und Kontakte gepflegt werden. In einer traditionsreichen Gegend wie dem Appenzellerland zu leben, empfinde ich als Privileg. Ob Alpfahrt, Viehschau oder das Silvesterchlausen: Keine der Traditionen wird gepflegt, um Touristen anzulocken oder Follower auf Youtube und Instagram zu gewinnen. Nein, es sind Herzensdinge, welche die Verbundenheit untereinander und mit der Heimat zeigen. Zeit und Arbeit, die dafür aufgewendet werden, sind zweitrangig. Wenn Buben und Männer vom «Chlausefieber» gepackt werden, freuen sie sich schon das ganze Jahr auf den Neuen und Alten Silvester. Und die Bauernfamilie scheut den Aufwand nicht, um zur Viehschau oder auf die Alp zu fahren.

Verbundenheit und Stabilität

Tradition und Brauchtum sind wichtige Grundpfeiler, welche uns helfen, nicht in der Anonymität zu versinken, nicht einfach Teil einer Menschenmasse zu sein. Sie sprechen nicht nur einzelne Berufs- und Bevölkerungsgruppen oder Regionen an, sondern verbinden Personen jeden Alters und Geschlechtes und vermitteln ein Gefühl von Stabilität in unserer hektischen Welt. Natürlich gibt es Menschen, denen Traditionen nichts bedeuten und die das Brauchtum verstaubt, nicht mehr zeitgemäss oder gar kitschig finden. Ich jedoch liebe diese besonderen Tage im Appenzellerland, so wie die Zürcher wohl das Sechseläuten, die Basler ihre Fasnacht und die Menschen in Vevey das Fête des Vignerons.

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Müsste ich jemandem das Silvesterchlausen erklären, könnte ich zwar die Bedeutung, die Zusammensetzung der Schuppel, den Unterschied zwischen «Schöne», «Wüeschte», «Schö-Wüeschte» oder die grosse Arbeit zur Anfertigung der Hauben und Hüte in Worte fassen. Doch was dieser Brauch in mir auslöst, liesse sich am ehesten mit den Worten aus der Erzählung «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry umschreiben: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Respekt, Bewunderung und Freude

Durch Beziehungen in die Zentralschweiz merkte ich jedoch, dass auch mir bisher fremde Bräuche beim näheren Kennenlernen Emotionen, Respekt und Bewunderung auslösen können. Dann wird der laute Klang von mehr als hundert Trychlern beim traditionellen Chlausjagen in Weggis plötzlich melodiös und die «Infuln», die kunstvoll gearbeiteten Hauben der Frauen, Männer und Kinder, sind trotz anderer Bauweise und Sujets in ihrer Würde vergleichbar mit den Hauben unserer Silvesterchläuse.

Mit Freude erfüllt es mich, dass auch unsere aus anderen Gegenden stammenden Schwiegerkinder unser Brauchtum schätzen und bewundern und dass ihre Mädchen mit Stolz die Ausserrhoder Tracht tragen.

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