Berggeister im Kanton Glarus

von Swantje Kammerecker
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24.09.2025
Bildgewaltig künden sie davon, wie verlorene Seelen im ewigen Eis stöhnen, Geissen nachts von einem Geist entführt werden, weil kein gesegnetes Brot im Haus ist, oder ein Senn den Tod findet, weil er sich mit einer Puppe aus Stroh ein Liebesobjekt zum Leben erweckt hat: In Sagen und Erzählungen der Bergkantone spukt es gewaltig.

Im Glarnerland, obschon im 6. Jahrhundert vom Heiligen Fridolin christianisiert, sind die ĂŒbersinnlichen Wesen bis heute prĂ€sent: Im Hauptort Glarus sprudelt munter der 1925 erbaute Berggeist-Brunnen. In der Buchhandlung Baeschlin, wenige Meter entfernt, findet man nicht nur SagenbĂŒcher verschiedenster Art, sondern auch die Romane „Quatemberkinder“ und „VrenelisgĂ€rtli“, in denen der Glarner Autor Tim Krohn weit ĂŒber die Grenzen der Schweiz hinaus den Menschen ein ganzes Panoptikum von Berggeistern vorfĂŒhrt. Der Bildband „Berggeister“ von Fotograf  Daniel Pittet und Roger Rhyners „Fisiguug“ lassen geheimnisvolle Fratzen aus den Konturen der (Glarner) Bergkulissen erkennen. Berggeister haben auch bereits in einer Ausstellung der Glarner KĂŒnstlerin Ingrid KĂ€ser das Kunsthaus bevölkert, und sogar unter den Biersorten der Glarner Adler-Brauerei tummeln sich allerlei Spukgestalten auf den Etiketten.  

Alles nur Folklore, Fabulierlust oder gar kommerzielle Gimmicks? FĂŒr mich als vor 25 Jahren aus einer deutschen Grossstadt zugezogene Wahlglarnerin, welche Geister lange nur aus der Geisterbahn der Chilbi kannte, eine spannende Frage. Und die Antworten dazu?

Gaby Ferndriger, die als Leiterin des Glarner Baeschlin Verlags seit vielen Jahren mit dem Thema konfrontiert ist und etliche SagenbĂŒcher herausgebracht hat, erklĂ€rt als Biologin und Christin das PhĂ€nomen der „Berggeister“ aus verschiedenen Blickwinkeln. Zum einen  psychologisch: „Die Älpler sind in den langen Monaten oben am Berg der Einsamkeit und den Naturgewalten ausgesetzt, dadurch kann sich die Wahrnehmung in Ausnahmesituationen verĂ€ndern – und die Geisterwelt wird auch als ErklĂ€rung fĂŒr beĂ€ngstigende, ĂŒbernatĂŒrliche Erfahrungen herangezogen.“ Zugleich möchte sie aber auch nicht ausschliessen, dass in den rauen Berggegenden sowohl die Allmacht Gottes wie auch andere, dunklere MĂ€chte, stĂ€rker  wirkten: „Das zeigt sich nur schon daran, dass etwa mit Gipfelkreuzen Gott die Ehre gegeben und ER um Beistand gegen das Böse gebeten wird.“

Ähnlich wie bei Sprichworten stecke auch in den sagenhaften GeistererzĂ€hlungen oft ein Funken Wahrheit. Weltweit kennen verschiedene Kulturen den Umgang mit guten, bösen oder ambivalenten Wesen einer unsichtbaren Welt;  diese fĂŒrchten oft das Licht, wollen bei Laune gehalten werden oder bieten bei Problemen ĂŒbersinnliche Hilfe an – wobei es dann schnell gefĂ€hrlich wird. „Und dass es DĂ€monen und dunkle MĂ€chte gibt, davon spricht ja auch die Bibel. Sowohl das Wort Gottes wie auch die vielen ‚Schreckgeschichten‘ der Sagen warnen uns davor, unsere Seele an sie zu verlieren“, zieht Ferndriger einen Vergleich.

Der Glarner Autor Roger Rhyner („Fisiguug“)  spĂŒrt gerne den geheimnisvollen Gesichtern nach, die sich in den FelswĂ€nden von GlĂ€rnisch, Wiggis und Schilt verbergen, stille Zeugen einer Landschaft voller Geschichten. Er ging sogar selbst auf Spurensuche nach den von Johann Jakob Scheuchzer beschriebenen Überresten eines „Drachenfunds“ in Glarus, konnte sie aber trotz intensiver Nachforschungen in der Naturwissenschaftlichen Sammlung ZĂŒrich, welche sie angeblich verwahrt, nicht finden. „Es ist spannend, dass ĂŒberall auf der Welt eigene Berggeister existieren“, sagt er. „Im Norden sind es die Trolle, bei uns dominieren vielfach Drachen – etwa im SchwĂ€ndital oder beim MĂŒrtschen. Vielleicht gibt es die Berggeister ja wirklich – und wir haben einfach verlernt, sie zu sehen.“ Rhyner findet es schön, diesen Geschichten neues Leben einzuhauchen. Er hat schon selber Berggeister gebastelt und vor Jahren mit Klangtherapeutin Catherine Fritsche eine CD mit Glarner Sagen und dazugehörenden Klangbildern erschaffen. Die beiden tragen mit vielen Live-Auftritten die oft dĂŒsteren, aber auch lehrreichen Geschichten weiter – wie auch andere ErzĂ€hlerinnen und Autoren im Glarnerland: Fridolin Hauser, Fridolin Jakober, Anni BrĂŒhwiler, Beatrix KĂŒnzli, um nur einige zu nennen.

Sagenabende vor Publikum – diese Tradition erlebt hier gerade eine Renaissance. Die Vorstellungen einer frĂŒheren Lebenswelt, als es noch kein Radio, Kino oder Fernsehen gab, werden so lebendig. „Hier finden wir den tief verwurzelten, Jahrhunderte alten Volksglauben wieder, der uns im Grunde immer noch prĂ€sent ist“, so die Glarner Sagen- und MĂ€rlierzĂ€hlerin Beatrix KĂŒnzli. Das beinhalte natĂŒrlich auch Aberglauben, Vorstellungen von Hölle und Verdammnis – etwa in Geschichten von untoten Seelen – mit denen sie durchaus kritisch umgeht: „Ich wĂ€hle darum bewusst aus, was ich erzĂ€hle und was nicht. Als Christin glaube ich in erster Linie daran, dass Gott jedem Menschen Erlösung schenken will. DĂ€monen und Berggeister, wie sie die Sagen bevölkern, sind aber nicht per se dunkle MĂ€chte. Sie sind oft Abbild des Seelenzustandes eines Menschen, etwa ein Alpdruck, der sich schwer auf die Brust legt. Sie zeigen mahnend an wo ein Mensch vom guten Weg abkommt; etwa wenn ihn Machtgier und Hochmut treiben oder er hartherzig, unbarmherzig wird.“ Und an diesem Punkt sieht KĂŒnzli dann auch wieder viele Parallelen zu biblischen Geschichten, die Ă€hnliche Themen und Botschaften haben.

Bilder: Berggeist-Brunnen in Glarus (Swantje Kammerecker), Felswand mit Gesicht (Swantje Kammerecker). Berggeister, gebastelt vom Autor Roger Rhyner (zvg.)

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