Annäherung an die Apokalypse
Der Staat Israel ist gegründet worden, es ist das Zeichen, dass Jesus bald wiederkommen wird und wir in der Endzeit leben. Atemlos verschlinge ich als junger evangelikal-fundamentalistischer Teenie Auslegungen zum letzten Buch der Bibel, dem Buch der Offenbarung. Es scheint mir glaubhaft, dass wir in der Endzeit leben, in der nach heftigen Wehen und einem Untergang der Welt, wie wir sie kennen, Gott überall herrschen wird. Es ist ein Kampf zwischen Gut und Böse. Bevor das Schlimmste losbricht, wird Jesus die Seinen holen. Da ich dann nicht allein sein will, versuche ich meine davon wenig begeisterten Eltern zu bekehren. Es ist die Angst, die mich leitet.
Glaube wird erwachsen
Knapp 50 Jahre später schaue ich mir eine Fernsehdokumentation an. Sie porträtiert Evangelikale aus den USA. Nicht alle Evangelikalen sind so, wie in dieser Doku gezeigt («Armageddon: Evangelikale und die letzte Schlacht»), doch was ich sehe, schockiert mich. Da werden Christen gezeigt, die Waffen kaufen, damit sie an der Seite von Jesus in der letzten Schlacht mitkämpfen können. Sie erzählen voller Vorfreude, wie Jesus auf einem fahlen Pferd reiten und in Blut waten wird. Sie spenden Geld für radikale Siedler in den besetzten Gebieten, welche die einheimische palästinensische Bevölkerung drangsalieren, und finanzieren deren Auswanderung. Einige lassen sich auf amerikanischen Militärstützpunkten in Israel anheuern. Sie hoffen auf einen offenen Krieg mit Iran, denn dann kommt der erhoffte Dritte Weltkrieg.
Das macht mich als Christin tief betroffen und lässt mich mit leisem Entsetzen zurückblicken auf meine Teenagerjahre. Wäre mein Glaube nicht erwachsen geworden, würde ich heute auch so denken?
Mittlerweile weiss ich, dass Untergangsängste jeweils zu Jahrtausendwenden Menschen plagen, aber auch bei früheren schlimmen Zeiten wie den Pestzügen. Mir ist klar, dass das Buch der Offenbarung kein Fahrplan ist, sondern ein Trostbuch inmitten einer bedrängenden Zeit für die ersten Christen im römischen Grossreich; auch wenn ich heute eine skeptische Distanz zu den vielen verstörenden Rachebildern darin habe. Ich weiss, dass viele Christen zur Zeit Jesu Apokalyptiker waren, die erwarteten, er käme bald wieder.
«1984» heute
Dennoch ist sie wieder da, eine Sorge. Diesmal betrifft sie nicht meine Eltern, sondern meine Kinder und die Zukunft der kommenden Generationen. Die Klimaveränderungen sind real. Seit 2022 herrscht im Osten Europas ein blutiger Krieg. Die Demokratie befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Eine Uigurin, die aus China entkommen konnte, las «1984» von George Orwell. Sie meinte betroffen, wie er habe wissen können, was in China passieren würde, einem Überwachungsstaat, der die politische Gesinnung seiner Bürger mithilfe von KI lesen kann.
Wie werden sie meistern, was die Zukunft bringt? Ich frage mich nach 50 Jahren erneut, ob die Geschichte der Menschheit ihre Vollendung hier auf Erden erreicht, sollten wir nicht wieder zu mehr Kooperation, Rücksichtnahme, Dialog, Nachhaltigkeit und Bewahrung der Schöpfung zurückfinden. Doch findet nicht gleichzeitig eine Veränderung statt, die der Musiker Nick Cave beschreibt als «unterirdischer Sog von Anteilnahme und Verbundenheit, eine […] kollektive Bewegung hin zu einer empathischen […] Existenz.»?
Unbändige Hoffnung
Ich blättere im letzten Buch der Bibel: «Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, Geschrei oder Schmerz.» Tröstliche Worte, weitere Bilder tauchen auf: ein Strom, der durch die Heilige Stadt fliesst, Blätter, welche die Völker heilen. Dass diese Vision hier und jetzt im eigenen Herzraum beginnt, daran glaube ich heute, und das ist gleichzeitig meine unbändige Hoffnung.
 
                                     
         
         
         
        
Annäherung an die Apokalypse