Als die Grenze zur Frage über Leben und Tod wurde
Während des Zweiten Weltkriegs blieb die Schweiz eines der wenigen neutralen Länder in Europa. Politische Gegner des NS-Regimes, vor allem aber Juden und Jüdinnen, galt sie als rettender Zufluchtsort. Zwischen 1938 und 1945 wagten Tausende die gefährliche Flucht über Pässe, durch Wälder und Flüsse, um in der Schweiz Asyl zu finden. Viele kamen dort nie an: Sie wurden an der Grenze abgewiesen. Denn die Schweizer Flüchtlingspolitik war restriktiv. Ab 1939 erschwerte der Bundesrat die Einreise für antisemitisch Verfolgte gezielt. Etliche jüdische Flüchtende wies man zurück – für viele bedeutete das den sicheren Tod.
Geschichte greifbar machen
Um die Erlebnisse dieser Menschen greifbar zu machen, hat Pfarrerin Franziska Bark Hagen Führungen auf den damaligen Fluchtrouten initiiert. Fünf Touren führen entlang der Grünen Grenze der Schweiz. Historikerinnen und ein Pilgerbegleiter berichten aus dem Leben der Grenzwächter, Helfenden und Flüchtenden. Die Führungen beleuchten die historischen Hintergründe und rücken Einzelschicksale in den Fokus. Besonderes Augenmerk liegt auf lokalen Bezügen, etwa der Flucht über die Grenzen bei Basel und St. Gallen. Den Auftakt bildet im Juni die Tour von Riehen nach Lörrach.

Grenzsperre im St. Galler Rheintal. | Foto aus: Stefan Keller, «Grüningers Fall»
Für Franziska Bark Hagen ist das Projekt eine Herzensangelegenheit. Bevor die Judaistin Theologie studierte, arbeitete sie am Jüdischen Museum in Berlin und beschäftigte sich intensiv mit Flucht- und Täterbiografien. Heute ist sie Pfarrerin an der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich und leitet das Pilgerzentrum. Die Schicksale der verfolgten Juden und Jüdinnen seien in der Schweiz wenig präsent, sagt sie, obwohl sie umfassend beforscht worden seien. «Aber es tut sich viel – der Bund hat ein Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus samt Bildungszentrum beschlossen.» Aber bis das dann fertiggestellt sei, werde es wohl noch etwas dauern.
Franziska Bark Hagen beschloss, schon mal loszulaufen und mit den Touren ein «Denkmal auf dem Weg» entlang der Grünen Grenze zu schaffen. Experten wie der Journalist Stefan Keller, der in den 1990er-Jahren den Fall Grüninger publik machte, oder Barbara Häne, Historikerin am Jüdischen Museum Schweiz, schlossen sich dem Projekt an und leiten jeweils Touren. Eine weitere Tour leitet der Enkel eines damaligen Grenzwächters. Dessen Grossvater sprach nie über diese Zeit – ein «von oben» verordnetes Schweigen.
Weisungen änderten ständig
Mit den Touren will Franziska Bark Hagen «diese Zeit unserer kollektiven Geschichte» lebendig vermitteln. Der Bundesrat definierte die Schweiz damals als Transitland, nicht als Zufluchtsort, sagt sie. Immer wieder veränderte Bern die Weisungen und bis diese die Grenzwächter erreichten, verging Zeit – viele Flüchtlinge erfuhren von den neuen Bestimmungen zu spät.
Die Szenen, die sich an der Grenze abspielten, waren oft dramatisch, sagt Bark Hagen. Familien, die nach einer langen, beschwerlichen Flucht aus Berlin endlich die Schweizer Grenze erreichten, erklärte man, dass als sogenannte Härtefälle neu nur Mütter mit Kindern unter sechs Jahren einreisen dürfen. Andere versuchten deshalb nachts, heimlich etwa bei Grenzach oder Lörrach die Grüne Grenze in die Schweiz zu überqueren. An der «Eisernen Hand» verwirrten die Grenzsteine, die ständig die Richtung wechselten. Viele Flüchtende verloren die Orientierung und liefen in der Dunkelheit den Wachposten mit ihren Hunden in die Arme.
Kann man die damalige Situation mit der heutigen Flüchtlingsthematik vergleichen? Das sei schwierig, meint Franziska Bark Hagen. Die Situation der Flüchtenden auf der Balkanroute sei anders, gleich seien die Ängste der Menschen. «Und nicht selten geht es auch da um Leben und Tod und um einen menschenwürdigen Umgang mit Menschen in dieser äusserst schwierigen Situation. Das verlieren wir oft aus dem Blick.»
Informationen und Anmeldung: www.pilgerzentrum-zuerich.ch > über die Grüne Grenze
Als die Grenze zur Frage über Leben und Tod wurde