Modernes Gleichnis

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18.11.2019
Vision oder Wahn – vom unbegrenzt technisch Möglichen, von unendlichen Weiten, von neuen Welten, von ungeahnter Bedrohung: Es wäre einfach, Science-Fiction als blosses Entertainment abzutun.

Zu einfach. Denn wenn man sich vom Seichten ins Tiefgründige wagt, warten Fragen, Denkanstösse und Aufrüttler. Wer in eine Geschichte eintaucht, sich von ihrer Dynamik führen lässt, sich ihre Denkweise zu eigen macht, dem können sich neue Welten eröffnen, Horizonte verschieben und Lichter aufgehen. Warum aber sollte man elementaren Fragen unserer Existenz nicht in Erzählungen oder Studien nachgehen, die in der realen Welt verankert sind? Warum die Verfremdung durch Science-Fiction? Weil Verfremdung den Blick klärt und den Geist aufklärt.

Was den Alltag durchbricht
Mit tiefen Fragen des Lebens gehen wir meist pragmatisch, bequem und schmerzausweichend um: mit bewährten Antworten, eingeübten Bewältigungsstrategien, routiniertem Blick. Dabei gibt es Themen, die unseren Alltag durchbrechen: Sterben und Tod, göttliches Gegenüber, Ambivalenz von Beziehungen, Infragestellung traditioneller Werte. Doch wir gehen in der Regel möglichst bald zur Tagesordnung über, die uns weniger aufwühlt. Leben und Liebe, Tod und Teufel, Gott und die Welt – nichts Neues unter der Sonne. Wir sind geübt darin, beunruhigende Impulse ruhigzustellen, indem wir sie ins Altvertraute zähmend einordnen. Neuer Wein in alten Schläuchen.

Alter Wein in neuen Schläuchen
Science-Fiction, wenn sie ernsthaft ist, kann ein neuer Schlauch sein, für alten wie für neuen Wein. Ein Gefäss für Fragen, denen wir im gewohnten Rahmen lieber ausweichen. Ein Hintergrund aus fiktiven Welten, Wesen und Werten, um Wahrheiten für unsere Realität zu formulieren – sozusagen im geschützten Rahmen fremder Räume und Zeiten. Ernsthafte Science-Fiction ermöglicht einen Perspektivenwechsel, ein Gedankenexperiment, mit dem Anspruch, das Hier und Jetzt zu kommentieren.

Science-fiction als Gleichnis
Ähnlich wie ein Gleichnis Jesu, bei dem wir uns – wenn wir ehrlich sind – ja auch schwer tun, es in eine tröstlich-nichtssagende Schublade einzuordnen. Denn es fordert uns heraus und wandelt uns. Es könnte sich lohnen, Science-Fiction wie ein modernes Gleichnis zu erschliessen. Denn: Wahrheit und Wahrhaftigkeit machen uns frei. Ob auf blauen oder roten Planeten.

 

Text | Bild: Tobias Claudy, Pfarrer, Wildhaus  – Kirchenbote SG, Dezember 2019

 

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