«Auch die Männer finden, dass es jetzt Zeit sei für eine Frau»

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19.10.2020
Rita Famos steigt für die Zürcher Kirche in den Wahlkampf um das Präsidium der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS. Famos über Frauen im Präsidialamt, den Kern des Christentums und warum die EKS verschiedene Gesichter braucht.

Vor zwei Jahren haben Sie für das Präsidium der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS kandidiert. Damals gegen Gottfried Locher. Was hat Sie bewogen, erneut anzutreten?
Es sind die gleichen Gründe wie vor zwei Jahren. Die EKS ist mit der neuen Verfassung in eine spannende Phase getreten. Ich habe Lust diese zu gestalten und mitzuhelfen, dass die EKS zur Kirchen-Gemeinschaft zusammenwächst. Und ich will meine Führungserfahrung aus dem Rat SEK, der Leitung der Zürcher Spezialseelsorge und dem Pfarramt einbringen, damit die EKS nach dem langen Verfassungsprozess nun umsetzen kann, was sie sich vorgenommen hat.

Bringen Sie als Frau einen anderen Führungsstil ein als die Männer, die bisher die Geschicke des Kirchenbunds bestimmten?
Vor dem Geschlecht entscheiden die Persönlichkeit und der Erfahrungshintergrund darüber, wie man führt und das Amt gestaltet. Es ist nicht primär eine Genderfrage. Aber man kann durchaus feststellen, dass viele Frauen von ihrer Sozialisation her Beziehungen sorgfältiger und transparenter gestalten und weniger Hinterzimmerpolitik betreiben. Und weil Frauen immer noch das Gefühl haben, dass sie stärker beobachtet werden und sich beweisen müssen, sind sie dossierfest und gut vorbereitet. Frauen achten zudem tendenziell stärker auf Minderheiten und versuchen, ihnen eine Stimme zu geben. Frauen haben es oft einfacher, Dinge anders anzugehen, weil es keine festgefahrenen Rollenmodelle gibt. Aber wie gesagt, das sind Tendenzen.

Das Präsidium der EKS ist eine Herausforderung. Der Kirchenbund ist stark von den Kantonalkirchen abhängig. Wie wollen Sie als Präsidentin allen Ansprüchen gerecht werden?
Allen Ansprüchen kann man nie gerecht werden. Führen in demokratischen Strukturen ist anspruchsvoll und hat verschiedene Aspekte. Es bedeutet mit anderen zusammen die Verantwortung übernehmen für die Themen, die bearbeitet werden sollen, die Prozesse, die transparent bleiben müssen, und die Minderheiten, die es nach jedem demokratischen Prozess gibt. Und schlussendlich heisst es, die Kommunikation der Ergebnisse zu verantworten.

Wie soll dies konkret aussehen?
Mit der neuen Verfassung hat man die Strukturen der EKS erarbeitet. Jetzt ist es an der Zeit, die Themen festzulegen, welche die Mitgliederkirchen ans Dach der EKS delegieren wollen, und zu bestimmen, welche Handlungsfelder auf die nationale Ebene gehören. Wichtig ist, dass die Prozesse, mit denen die EKS zu diesen zentralen Entscheidungen kommt, transparent sind und dass man wieder Vertrauen fasst in unsere Gremien.

Durch die Affäre Locher ist das Vertrauen in die EKS angeschlagen. Wie wollen Sie dies ändern?
Führen mit offener Agenda: Vertrauen entsteht durch transparente Beziehungsarbeit. Die ersten Monate wären sicher geprägt durch viele Reisen zu den Mitgliedkirchen. Und Vertrauen entsteht dann, wenn offen und fair gerungen und gestritten wird. Wir sollten die Meinungsbildung zu strittigen Themen offen führen.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir beispielsweise die «Ehe für alle». Über dieses Thema gab es keinen echten Diskurs. Der Präsident stand eines Tages hin und erklärte, der Kirchenbund befürworte die «Ehe für alle». Etliche fühlten sich durch dieses Vorpreschen brüskiert. Wenn jedoch ein offener Meinungsbildungsprozess stattgefunden hätte, wären die Minderheiten darauf vorbereitet gewesen, und man hätte sich auch überlegen können, wie sie sich positionieren.

Sie sprechen die Kommunikation an. Was wollen Sie verbessern?
Als Präsidentin gut kommunizieren bedeutet nicht in erster Linie, die eigene Meinung in die Öffentlichkeit zu tragen. Es heisst, Verantwortung zu übernehmen für die Kommunikation der erarbeiteten Standpunkte und Themen der EKS.

Brauchen die reformierten Kirchen kein Präsidium, das hinsteht und Verantwortung für die Entscheide übernimmt?
Natürlich, ich bin gerne bereit hinzustehen, die gemeinsam erarbeiteten Positionen zu vertreten und der EKS ein Gesicht zu geben. Aber es darf nicht das einzige Gesicht bleiben. Die Reformierten haben viele starke Persönlichkeiten, die Gesicht zeigen können.

Sie sind nicht die einzige Kandidatin, die im November zur Wahl ums Präsidium antritt. Aus dem Welschland kandidiert Isabelle Graesslé.
Das ist gut so, denn dies ermöglicht eine echte Wahl.

Ist es ein Zufall, dass jetzt zwei Frauen kandidieren?
Nein. In der ganzen Gesellschaft ist der Ruf gross, dass Frauen Führungspositionen übernehmen. Und Frauen sind zunehmend bereit, sich dem Auswahlverfahren und der Wahl zu stellen. Das ist in der Kirche nicht anders als in der Politik. Die reformierten Kirchen der Schweiz sind zudem die einzigen grossen, anerkannten Kirchen, in denen Frauen ein solches Amt übernehmen können. Dass jetzt keine Männer für das Präsidium kandidieren, werte ich als Zeichen, dass diese auch finden, es sei Zeit für eine Frau.

Bis vor kurzem nahm der Anteil der Frauen an der Spitze einer Kantonalkirche ab.
Da hat eine Trendwende eingesetzt. Die Synoden von Bern, Solothurn und Graubünden haben eine Frau gewählt. Aber Sie haben recht: Nach der ersten Phase der Pionierinnen in den Kirchenleitungen ging die Anzahl der Präsidentinnen wieder zurück. Wenn jetzt eine Frau das Präsidium der EKS übernimmt, wäre dies ein schönes Zeichen. Sie wäre die erste in der 100-jährigen Geschichte des Kirchenbunds.

Die Kirchen befinden sich in einem Umbruch: Auf der einen Seite verlieren sie Mitglieder und die Finanzen gehen zurück. Andererseits besteht das Bedürfnis nach Spiritualität und nach einer Kirche, die sich in die Gesellschaft einbringt. Wie soll man damit umgehen?
Wir müssen unseren Mitgliederschwund ernst nehmen und nach alternativen Modellen suchen, welche die Mitgliedschaft wieder attraktiver machen. Wir dürfen uns aber auch nicht davon lähmen lassen und sollten unseren Glauben und unsere Überzeugungen nicht unter den Scheffel stellen. Denn ob sich die Kirche sozial, kulturell und ethisch einbringt und Räume für Spiritualität und lebendigen Glauben öffnet, hängt nicht von ihrer Grösse ab. Das habe ich während meines Studiums in Halle/DDR 1989 erfahren. In unseren Kirchgemeinden landauf und landab gibt es so viel gelebten Glauben und gesamtgesellschaftliches Engagement. Erzählen wir davon!

Vor 500 Jahren riefen die Protestanten die Menschen auf, die Bibel zu lesen, und sie sagten, dass jeder den Glauben als Geschenk erhalten kann. Was ist die Botschaft der Protestanten an die heutige Gesellschaft?
Aus meinem jahrelangen Engagement in der und für die Seelsorge weiss ich: Wer sich im Leben auch um sein geistliches und spirituelles Wohlergehen kümmert, entwickelt eine unglaubliche Kraft. Sie stärkt Menschen, um persönlich schwierige Zeiten zu überstehen. Sie ermutigt sie auch für ihr gesellschaftliches Engagement. Und ich habe auch gesehen: wer in einer tragenden und verbindlichen Gemeinschaft lebt, übersteht Lebenskrisen besser und ist mit anderen zusammen wirkungsvoller als allein.

Diese Gemeinschaft ist die Kirche?
Die Kirche ist eine Partnerin auf der Suche nach den geistlichen Quellen und eine Gemeinschaft, die sich mit den und für die Menschen engagiert.

Zuletzt: Was ist für Sie der Kern der christlichen Botschaft?
Verdichtet haben unsere Glaubensväter – und -mütter den Kern in die trinitarische Formel gebracht: Gott unser Schöpfer als Ursprung und Urgrund allen Lebens. Jesus Christus, in dem Gott uns zeigt, wie Liebe und Befreiung gemeint ist. Die Heilige Geistkraft, die uns zum Leben inspiriert und die Menschen zu lebendiger Gemeinschaft verbindet. Hier finde ich ganz viel, was ich als Kern des christlichen Glaubens bezeichne.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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