«Fussball ist eine Religion»

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10.06.2016
Heute beginnt die Fussball-Europameisterschaft in Frankreich. Josef Hochstrasser ist Fussballexperte, Pfarrer und Hitzfeld-Biograf. Ein Gespräch über Kirche und Fussball, seine Freundschaft zum Ex-Nati-Trainer Ottmar Hitzfeld und die Macht des Geldes.

Herr Hochstrasser, wenn man sich die Leute bei einer Fussballmeisterschaft so anschaut, könnte man meinen, sie beten einen Gott an.
Fussball ist eine Religion. Ich halte mich da an die Definition von Erich Fromm, dass Religion ein System ist, wo Menschen und Gemeinschaften Möglichkeiten der Orientierung haben und ihre Hingabe zu einem Objekt ausleben können. Ist jemand ein grosser Fan, hat sein Verhalten auf jeden Fall religiöse Züge.

Also kann man sich getrost aufs Fussballfeld begeben, statt in die Kirche zu gehen?
So weit geht es natürlich nicht. Natürlich kenne ich Christen, deren Religion der Fussball ist. Ihr Gottesdienst ist ihr Spiel am Samstag. Ich selbst spiele jede Woche Fussball, ich liebe es, aber es würde nie den Gottesdienst ersetzen. Weil dieser substanzieller ist, wesentlicher. Fussball ist gesellschaftsrelevant, schafft aber keine Gerechtigkeit.

Was könnte die Kirche trotzdem vom Fussball lernen?
Sie könnte mehr Emotionen zeigen, mehr aus sich herauskommen. Diese Gottesdienste sind oft ein reines Trauerspiel, bei dem keiner wirklich versteht, was da vorne gesprochen wird. Der Fussball ist einfach, er ist zugänglich. Jeder versteht die Regeln, jeder kann mitmachen, wenn er will. Die Kirche ist nicht am Ball, zu wenig bei den Leuten.

Woran liegt das?
Die Pfarrer stehen oft nicht wirklich mit beiden Füssen im Leben. Sie sind in einer Art geschlossenem System gefangen, wo der Überbau zu wenig mit dem echten Leben zu tun hat. Sie stülpen ihre Regeln über die Leute, statt von unten her zu horchen, was die Menschen brauchen würden, um sich verstanden zu fühlen. Der Pfarrer sollte sich stärker am Gegenüber orientieren, aus dem Moment heraus handeln.

Der Fussball lebt vom Moment.
Ja, er ist spontan. Man weiss nie, wie sich ein Spiel entwickeln wird. Und jedes Spiel beginnt bei Null, es existieren keine Vorabideen. Das ist eine sehr erfrischende Sache.

Was kann der Fussball von der Religion lernen?
Natürlich Ethik, saubere, faire Ethik. Die Spiele quellen teilweise über vor Fouls. Die Zuschauer wissen auch nicht immer, wie sie sich benehmen sollten.

Und die Fifa, von der müssen wir ja gar nicht reden. Sie hat Tonnenweise Dreck am Stecken.
Natürlich könnte sich auch die Fifa eine Scheibe abschneiden. Ich kenne Sepp Blatter gut, er hat sich ethisch bemüht, kann aber nicht weltweit für jeden Funktionär geradestehen. Aber klar liegt es an der Macht des Geldes, an der Eitelkeit des Systems, der Spieler. Es finden viele schräge Machenschaften statt. Das hat mit christlicher Ethik nicht mehr viel zu tun.

Ist der Fussball eine verdorbene Welt geworden?
Er hat sich auf jeden Fall sehr verändert. Und nicht nur zum Guten. Ich finde, er hat viel von seiner Lebensfreude verloren. Das Geld hat eine sehr dominante Rolle eingenommen, das war vor ein paar Jahrzehnten noch nicht so stark im Fokus. Alles ist viel verbissener, es geht um viel, um Aufstieg, Niederlage, das grosse Vermögen. Das Leistungsdenken ist sehr präsent, und es fängt schon in den Trainingslagern der Kleinen an. Doch der Fussball ist auch präsenter geworden in der Gesamtgesellschaft. Heute interessieren diese grossen Spiele viel mehr Menschen.

Bei der Kirche geht es auch um viel Geld. Aber die Zuschauer bleiben fern.
Ja, bei der Kirche ist es umgekehrt, die Gesellschaft interessiert sich immer weniger. Die Eintrittsschwelle ist viel höher als bei einem Fussballspiel. Die heutige Gesellschaft ist nutzenorientiert. Sie fragt sich immer: Was bringt es mir, wenn ich das oder jenes tue? Welchen Nutzen habe ich davon? Und am Ende ist die Rechnung einfach: Bei einem Fussballspiel treffe ich Freunde, trinke Bier und amüsiere mich. Und ich bin Teil einer Bewegung, die mich begeistert. Finden Sie das heute auch in der Kirche?

Macht Ihnen das Sorgen?
In gewisser Weise schon, weil sie verlieren wird, wenn sie weiterhin so spassbefreit bleibt. Auch der Fussball wird leiden, wenn Leistung immer über Spass steht.

Sind Sie auch so verbissen, wenn Sie spielen?
Ich kann Ihnen sagen, wir wären den grossen WM-Gruppen ein Vorbild. Ich spiele seit 35 Jahren jede Woche Fussball mit meinen Kollegen, und wir spielen um nichts als den herrlichsten Doppelpass. Manchmal spielt auch Ottmar mit.

Sie und Ottmar Hitzfeld sind alte Jugendfreunde. Hat sich die Nati verändert, seit er nicht mehr Trainer ist?
Die Nati ist nicht mehr die gleiche, seit er nicht mehr Trainer ist. Vielleicht bin ich da nicht ganz neutral, aber ich empfinde es so. Die Leistung hat abgenommen, einzelne Spieler identifizieren sich nicht stark genug mit der Mannschaft und der Schweiz. Darunter leiden das Team und die Zuschauer gleichermassen.

Welche Chancen prognostizieren Sie der Mannschaft denn für dieses Jahr?
Wir werden nicht sonderlich weit kommen. Wir werden die Gruppenphase überstehen, danach aber bald ausscheiden. Weil zu wenig mit Herz gespielt wird, zu wenig Identifikation da ist.

Welche Spiele schauen Sie sich sicher an?
Die der Italiener, ich bin ein grosser Fan. Ich schaue die Spiele gerne von Zuhause aus. Ich bin keiner, der in der Fan-Meile steht und mitgrölt. Ich bin sehr konzentriert und still, wenn ich Fussball schaue. Es ist ein bisschen wie beim Beten.

Ottmar Hitzfeld hat Sie an seine Spiele eingeladen. Laden Sie ihn in die Kirche ein?
Ottmar kommt ab und an zu mir in Steinhausen im Kanton Zug in den Sonntagsgottesdienst, wenn ich predige. Nach dem Gottesdienst gehen wir Mittagessen mit unseren Frauen. Er ist sehr interessiert, diskutiert immer gerne mit mir über meine Predigten. Fussball und Gott, das sind zwei herrliche Themen.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Anna Miller / Kirchenbote / 10. Juni 2016

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