Albtraum?

min
07.03.2023
Pfarrer Beat E. Wüthrich aus dem Glarner Chlytal schreibt plastisch über seinen persönlichen Albtraum. Die Bilder, die er zeichnet, berühren direkt das Herz. Die Denkpause erschien bereits in den Glarner Nachrichten.

Wie lange können Albträume dauern? Meiner hat sich gerade am 24. Februar gejährt. Ich sah den Kanton Glarus plötzlich mit zerstörerischer Wucht angegriffen. Eines Morgens, die Kinder auf dem Schulweg, zerriss ein ohrenbetäubender Bombenschlag das in der Nähe der Kaserne stehende Spital in zwei Teile. Gleich darauf eine Explosion auf unseren Dorfladen neben der Kaserne. Dann eine dritte auf das gemütliche Restaurant gegenüber der Panzergaragen und plötzlich war die Welt, der Alltag und das Leben wie wir sie kannten nicht mehr. 

Alle Sirenen heulten. Drohnen flogen durch die Luft und stürzten explodierend auf alles, was einem Gebäude ähnlich sah. Die Menschen rannten herum, suchten Schutz und von irgendwoher flossen Horden von vermummten Gestalten ins Tal und schossen auf alles was sich bewegte. Der Bahnhof, der Güterschuppen, der Volksgarten wichen einem riesigen Krater, ausgehoben von einer Lenkflug-Rakete gegen Flugzeugträger. Das Rathaus hatte in der Mitte eine gähnende Leere mit Sicht auf die kollabierten Gebäude dahinter und der steinerne Fridolin, der den Dachgiebel verzierte, lag in zwei Teilen auf den drei noch intakten Stufen des ehemaligen Eingangs. Der Zaunplatz war noch intakt. In seiner Mitte lag eine nicht explodierte Bombe. Das war der Anfang. 

Ich glaube, ich war ein Geist und schwebte über der Szene der Verwüstung im ganzen Kanton. Kindergärten, Schulen, Pflegeheime, Kirchen, Museen, Theater, Geschäfte... total entstellt, wenn nicht flach wie der Erdboden. Da war ein wie vom Büchsenöffner aufgeschlitztes Wohnhaus. Ein Kinderbett hing heraus und unten auf dem Parkplatz lag ein Plüschpanda mit einem Glarnertüechli als Halstuch. Ein Turm der Stadtkirche stand noch. Die meisten Einkaufszentren waren unzugänglich, die Stadtbibliothek aufgeplatzt und umrahmt von auf der Strasse liegenden Büchern. Eltern suchten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern. Schöne Bauernhäuser brannten lichterloh und Tiere rasten führungslos herum. Die Liste der Opfer schossen in die Höhe und ich sah ihre Namen in riesigem Tempo von unten nach oben fliessend wie auf einem grellen Bildschirm: Heinrich, Jakob, Verena, Peter, Balz, Johannes, Theres, Mathias, Thomas, Beat, Linus, Elijah, Elisabeth, Hans, Marianne... die Namen verschwammen... Eine Stimme sagte, wie aus einem Fernseher: "Die noch fliehen können fliehen, andere setzten sich zur Wehr, heldenhaft. Die Kantone organisieren sich um die Glarner aufzunehmen..."

Und plötzlich andere Stimmen: 

– Dieser Angriff ist grausam, aber die Glarner sind selber schuld. Mit ihrem Ziger, ihrer sturen Unabhängigkeit und dieser archaischen Landsgemeinde haben sie schon über Jahre den Angreifer provoziert. 

– Sowieso war der Angriff auf militärische Ziele gerichtet, Kasernen, Panzer, ich meine, man muss sie auch verstehen.

– Eines ist klar, die Australier sind schuld daran.

– Wenn diese halsstarrigen Glarner aufhören würden sich zu wehren, hätten sie sofort wieder Frieden. Aber das wollen sie gar nicht.

– Also ich meine man müsste sich ja noch die Frage stellen dürfen ob dieser Angriff wirklich völkerrechtswidrig ist.

Und plötzlich erwachte ich...! Oder nicht? 

Und jeden Tag höre ich eine uralte prophetische Stimme, markdurchdringend wie noch nie: "Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis erklären, die Bitteres süß und Süßes bitter nennen!" 

Schweissgebadet dachte ich, jetzt brauch ich einen Tee und eine riesengrosse Denkpause.