Das ist ja mal wieder typisch

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14.10.2022
So klingt es nicht nur manchmal. Wir geraten immer wieder in dieselben Konflikte mit denselben Menschen. Wir nerven uns über dieselben Sachen. Manchmal scheinen wir wie gefangen in unseren Verhaltensmustern. Und die Menschen, mit denen wir zu tun haben, auch.

Ein Beispiel aus dem Lehrbuch: „Ein Ehepaar, Mitte 50, seit 30 Jahren verheiratet, sitzt unglücklich vor einer etwa gleichaltrigen Eheberaterin. Man liebe sich nach wie vor, versichern beide glaubhaft. Die höchst unerquicklichen Streitigkeiten nähmen dabei aber erschreckend zu. Der Ehemann, Manager eines grossen Betriebs, handelt nach Darstellung der Frau in einer für sie beide unerklärlichen Weise rücksichtslos. Bei seinen häufigen Dienstreisen, die sich oft über mehrere Tage erstreckten, sitze sie allein im Hause, leide unter Einsamkeit. Sie sei schon ganz niedergedrückt. Sie sähe natürlich ein, dass ihr Mann so häufig abwesend sein müsse. Was sie nicht verstehe, sei, dass er ihrer dringenden Bitte nicht entspreche, sie bei längerer Abwesenheit wenigstens hin und wieder anzurufen. – Der Ehemann wirkt ebenfalls bedrückt und bestätigt den Sachverhalt kummervoll. Er verstehe das Anliegen seiner Frau vollkommen, nehme sich die Anrufe regelmässig vor, vergesse sie aber ebenso regelmässig. Gegen diese merkwürdige Vergesslichkeit sei offenbar kein Kraut gewachsen.“

 

Offensichtlich haben sich bei den Beiden Verhaltensmuster eingeschliffen, die sie schlecht ändern können. Diese Muster gehören zu einem „typischen Verhalten“. Ist dagegen tatsächlich kein Kraut gewachsen? Oder könnte ein Einblick in diese unterschiedlichen Typen die Situation erhellen?

Seit der Antike tüfteln Menschen an Systematisierungen und beschreiben verschiedene Charakter-Typen. Offenbar ist das ein Thema, das die Menschen zu jeder Generation beschäftigt (hat). Und seit es Typenlehren gibt, regt sich erbitterter Widerstand dagegen. „Das sind doch Klischeevorstellungen!“ Oder: „Ich lasse mich doch nicht in eine Schublade stecken!“ Natürlich nicht! (Wenn Sie den Text bis zum Ende lesen, werden Sie bemerken, welcher Typ am meisten Angst vor dieser Vorstellung hat.)

 

Wenn wir uns auf die Typenlehre einlassen und nicht sofort mit Widerstand reagieren, dann bemerken wir etwas anderes: Der Charakter eines Menschen bildet sich mit seinen „typischen“ Merkmalen und Eigenschaften im Laufe des Lebens als Reaktion auf wichtige Erlebnisse. Und so hat er sowohl Schutz- als auch Orientierungsfunktion! Und auch das ist klar: Jeder Mensch vereinigt alle Typen in sich, die jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Tendenziell hat jeder seine eigene Schwerpunktbildung. Und, wichtig, die Typen sind wertfrei!

«Seit der Antike tüfteln Menschen an Systematisierungen und beschreiben verschiedene Charakter-Typen.»

 

In den sozialen Berufen und in der Seelsorgeausbildung ist die Typenlehre von Fritz Riemann berühmt geworden. In seinem Buch: „Die Grundformen der Angst“ geht er davon aus, dass Angst unweigerlich zum menschlichen Leben dazu gehört. Jede Veränderung, die ansteht, löst neben dem Reiz des Neuen auch eine mehr oder weniger grosse Portion Angst aus. Jeder Entwicklungsschritt (zum Beispiel Einschulung, Lehrbeginn, Berufsbeginn, Verliebt sein und Eingehen einer Partnerschaft, Eltern werden, Altwerden usw.) ist nicht nur reizvoll, sondern auch bedrohlich. Angst gehört mit dazu. Und auffallend ist: Was dem einen Angst macht, ist für den anderen harmlos oder sogar reizvoll. Was die eine als bedrohlich erlebt, zieht die andere an.

 

Riemann beschreibt vier Forderungen des Lebens, denen sich jeder Mensch stellen muss:

 

1. Sich selbst als Individuum akzeptieren, mit allem, was dazu gehört. Sich damit auch von anderen abgrenzen und unterscheiden. Mit dieser Forderung verbunden ist die Angst, aus der Geborgenheit der Gemeinschaft heraus zu fallen und einsam zu werden.

 

2. Sich dem Leben, der Welt und den Mitmenschen gegenüber vertrauensvoll öffnen, sich auf Beziehungen einlassen. Damit verbunden ist die Angst, die eigene Eigenständigkeit nicht genügend entwickeln zu können.

 

3. Dauer anstreben. Wir richten uns ein in unserem Leben und gehen davon aus, dass das einmal Erreichte stabil bleiben wird. Wir planen unbesorgt unsere Zukunft. Damit verdrängen wir die Angst vor der Veränderung, vor der Unberechenbarkeit und Vergänglichkeit des Lebens.

 

4. Sich ständig wandeln. Wir entwickeln uns weiter, lassen Vertrautes los, nehmen Abschied. Dabei entsteht die Angst, dass uns Traditionen oder Ordnungen festhalten und festlegen.

 

Aus diesen Grundforderungen des Lebens entwickelt Riemann seine Grundformen der Angst, die sich als Reaktion darauf gebildet haben. Dabei unterscheidet er zum einen die Polarität von Nähe und Distanz und zum anderen die Polarität von Ordnung und Veränderung.

«Ich lasse mich doch nicht in eine Schublade stecken!»

Der Distanz-Typ hat Angst vor Nähe. Er verhält sich distanziert, kühl, sachlich. Er meidet Nähe und Vertrautheit. Es fällt ihm schwer, sich zu öffnen. Gefühle sind ihm fremd. Er weiss nicht, ob er eine Emotion fühlt oder denkt. Ihm fällt es schwer, eine Beziehung einzugehen. Seinen Ärger kann er aber gut ausdrücken, Wut bricht plötzlich aus ihm heraus.

Der Harmonie- oder Nähe-Typ hat Angst, aus der Geborgenheit heraus zu fallen. Er strebt nach Nähe und Harmonie, nach Abhängigkeit und Bindung. Um sein Ziel zu erreichen, ist der bescheiden, bereit zum Verzicht, friedfertig, voller Mitgefühl und Mitleid. So hat er einen Touch von moralischer Überlegenheit, der Druck auf andere ausübt. Er fordert nicht, sondern erwartet stillschweigend, dass das selbstlose Verhalten belohnt wird. Spannungen kann er schwer aushalten. Er hat eine Tendenz zur Verschmelzung und weiss manchmal nicht, wo er selbst aufhört und der Andere anfängt. Er geht in die Opferrolle und übt so eine passive Aggression aus.

Der Ordnungstyp hat Angst vor der Veränderung, davor, dass das Chaos ausbricht. Alles soll möglichst so bleiben, wie es ist. Gesetze, Regeln und Traditionen sind super. Sie bannen das Durcheinander. Er hat ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis. Bei Entscheidungen ist er eher zögerlich, Spontaneität ist ihm fremd. Auf ihn ist Verlass und er ist treu und erwartet das auch von anderen. Selbstbeherrschung bannt die Angst vor dem Gefühlsdurchbruch.

Der Veränderungs-Typ sucht das Neue, das Reizvolle, die Aufmerksamkeit. Wenn er den Raum betritt, richten sich alle Augen auf ihn. Er braucht Abwechslung und will seine Ziele möglichst schnell umsetzen. Pünktlichkeit ist kleinkariert. Er redet überzeugend, ist nicht berechenbar. Alles muss sich um ihn drehen, er ist eine Dramaqueen. Dahinter steckt eine tiefe Verunsicherung, ein Minderwertigkeitsgefühl. Die Angst vor Kränkung ist gross. Wird ein Detail kritisiert, erlebt er das als totale Infragestellung seiner Person.

Zurück zur Szene am Anfang. Wie können die beiden ihre Streitigkeiten vermeiden? Oder zumindest ein so grosses Verständnis füreinander entwickeln, dass sie nicht mehr mit Enttäuschung und schlechtem Gewissen in der Schamspirale weiter hinab steigen? Ein wirksames Kraut gegen ihre Situation ist vielleicht schon, wenn sie ihr „typisches Verhalten“ erkennen. Wenn der Mann bemerkt, dass seine Frau ein grösseres Bedürfnis nach Nähe hat als er selbst. Und die Frau kann bemerken, dass ihr Mann sich nicht aus Böswilligkeit nicht bei ihr meldet. Sondern schlicht und ergreifend, weil sein Bedürfnis nach Nähe ein anderes ist als ihres. „Aus den Augen aus dem Sinn“, weiss der Volksmund. Wie könnte eine Lösung aussehen, mit der beide leben können? Dass dabei noch ganz andere „typische“ Fallen liegen, liegt auf der Hand. Die Frau könnte ihren Mann anrufen, anstatt auf seinen Anruf zu warten. Aber offenbar kann/will sie das nicht. Wir können fantasieren, was dann passieren würde: Fühlt sich der Mann kontrolliert? Eingeengt? Und wenn der Mann sich melden würde? Wie unermesslich ist der Wunsch der Frau? Reicht ein Anruf? Oder braucht es 20? Es wird im Gespräch darum gehen, eine praktikable Lösung für Beide zu entwickeln. Ein erster Schritt liegt dann im gegenseitigen Verständnis der jeweiligen „Typik“.

Die Stärke von Riemanns Modell liegt für mich auf zwei Ebenen. Zum einen – und vor allem – hilft es mir, mich selbst besser kennen zu lernen. Ich erkenne, welcher Typ ich bin und lerne damit viel über meine blinden Flecken. Und so erkenne ich auch mein Entwicklungspotenzial, meine Möglichkeit, zu reifen. Und zum anderen hilft es mir, meine Mitmenschen besser zu verstehen und nicht vorschnell in Abwehr zu verfallen.

Lars Syring

 

 

 

 

 

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