Kirchen sollen das Tierleid nicht mehr ausblenden

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04.05.2021
Der Arbeitskreis Kirche und Tier (Akut) lanciert eine Selbstverpflichtung zur tierfreundlichen Kirche. Warum Ethik am Mittagstisch und im Garten beginnt, erklären die Initianten.

Das Bewahren der Schöpfung ist der Kirche ein grosses Anliegen. Warum braucht es da eine Selbstverpflichtung zur Tierfreundlichkeit?
Eveline Schneider Kayasseh: Die biblische Botschaft überträgt dem Menschen die Verantwortung für die Tiere. Wir alle sind aufgerufen – und ganz besonders die Kirchen mit ihrer Vorbildfunktion – die Stimme für die Tiere zu erheben, sie vor Ausbeutung und Grausamkeit zu schützen. Nutztiere werden oft als Ressource statt als Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen wahrgenommen. Das führt zu viel Tierleid. Hinzu kommt: Wenn Tiere leiden, wenn es ihnen schlecht geht, geht es auch uns Menschen oft nicht gut. Ich denke an den Klimawandel, der alle Geschöpfe auf der ganzen Welt gleichermassen betrifft. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, zum Guten wie zum Schlechten. Zusammen mit den Kirchgemeinden wollen wir mit der Selbstverpflichtung ein Zeichen setzen für einen lebensfreundlicheren und rücksichtsvolleren Umgang mit den Tieren, zum Wohl aller Geschöpfe.

Macht die Kirche zu wenig für Tiere?
Christoph Ammann: Das würde ich schon sagen. Viel zu wenig sogar. Mit dem neuen Legislaturziel 2020-24, umweltfreundlicher und nachhaltiger zu sein, nimmt die Zürcher Landeskirche den Klimawandel jetzt zwar ernst. Aber das Tierwohl im Speziellen wird nicht als wichtiges und dringliches Thema angeschaut. «Bewahrung der Schöpfung» ja, Umstellung auf Solarenergie gerne, aber Verzicht auf Fleisch bitte nicht. Der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Fleischkonsum zum Beispiel wird vielerorts ausgeblendet. Ich habe immer noch den Eindruck, die Tiere haben in der Kirche keine Stimme. Wo Menschen diskriminiert werden, erheben die Kirchen laut ihre Stimme. Das ist auch gut so. Aber wenn es um Tiere geht, schweigen die Kirchen. Daran hat sich wenig geändert.

Sie haben die neuen Legislaturziele angesprochen. Darin heisst es auch, dass sämtliche Kirchgemeinden bis 2024 mit dem Umwelt-Label «Grüner Güggel» zertifiziert werden. Ist das Tierwohl darin nicht enthalten?
Eveline Schneider Kayasseh: Die «Tierfreundliche Kirche» ist kein Label, sondern eine Selbstverpflichtung. Grundsätzlich ist es den Kirchgemeinden freigestellt, für welche Massnahmen sie sich entscheiden. Akut hat fünf Grundsätze formuliert, die eine tierfreundliche Kirche ausmachen (siehe unten). Zu diesen muss jeweils mindestens eine von zahlreichen Massnahmen definiert und realisiert werden, um die Auflagen zu erfüllen.

Als erster Kirchenkreis der Kirchgemeinde Stadt Zürich hat sich Zürich-Wiedikon verpflichtet. Was ändert sich im Kirchenkreis drei nun konkret?
Eveline Schneider Kayasseh: Der Kirchenkreis drei bringt Schwalbennester an, kauft den Kaffee künftig tier- und naturgerecht ein, vernichtet Neophyten und ersetzt nicht standortgerechte Pflanzen durch einheimische. Zudem soll das Essen bei Anlässen grösstenteils aus vegetarischen und veganen Gerichten bestehen.

Christoph Ammann: Die Selbstverpflichtung ist als Ergänzung und Vertiefung zum «Grünen Güggel» gedacht und steht zu diesem nicht in Konkurrenz. Uns geht es um das konkrete Tierwohl. Und dieses hat nun einmal mit Einschränkungen und Verzicht zu tun. Ethik gibt es nicht ohne den Anspruch, das Leben zu verändern. Daher ist das Thema auch emotional aufgeladen – es ist einfacher über Solarzellen zu diskutieren als über das durch den Fleischkonsum verursachte Leid. Und es fordert weniger von mir, auf Facebook einen «Ehe für alle»-Sticker anzubringen, als mein eigenes Leben zu ändern.

Muss eine tierfreundliche Kirchgemeinde künftig auf Cervelats und Hotdogs nach dem Familiengottesdienst verzichten?
Eveline Schneider Kayasseh: Der zweite Grundsatz der Selbstverpflichtung fordert zu tierfreundlichem Beschaffen und Konsumieren auf. Damit ist nicht der komplette Verzicht auf Fleisch gemeint, wenn dieser aus unserer Sicht auch wünschenswert wäre. Wichtig ist aber, dass es bei den kirchlichen Veranstaltungen Alternativen zur Wurst gibt, dass vegetarische und vegane Menüs angeboten werden. Zudem ist darauf zu achten, dass regional und biologisch eingekauft wird. Dadurch lassen sich die Transportwege verkürzen und Anreize für die biologische Landwirtschaft in der Umgebung schaffen. Viele Kirchgemeinden haben einen eigenen Garten. Hier empfiehlt es sich zum Beispiel, auf den Einsatz von giftigen Stoffen zu verzichten und keine Laubbläser zu benützen, da diese für kleine, ökologisch wertvolle Tiere und Organismen tödlich sind.

Der Sonntagsbraten hat eine lange christliche Tradition. Ist er aus Sicht des Tierethikers moralisch verwerflich?
Christoph Ammann: Je länger ich darüber nachdenke, komme ich zum Schluss, dass Fleischessen moralisch problematisch ist. Wenn jemand einmal in der Woche, von mir aus am Sonntag, ein Stück Braten isst, und dies mit der tiefen Spiritualität begründet, er handle aus Dankbarkeit gegenüber Gott und der Schöpfung, habe ich vor dieser Einstellung durchaus Respekt. Aber die heutige Realität sieht ja leider ganz anders aus: Man muss so viel Leid ausblenden in Verbindung mit Tiertransporten, Zucht und Tötung, dass es sich kaum rechtfertigen lässt, Fleisch zu geniessen. Das Tier hat sich mir nicht gegeben, damit ich es essen kann. Wir töten es. Und die Frage ist: Wie kann man dieses Töten rechtfertigen? Ganz zu schweigen vom Leid, das viele Nutztiere schon vor der Tötung erdulden müssen.

Das tönt schon sehr moralisierend. Gewisse Kirchgemeinden könnten sich dadurch von der Selbstverpflichtung abhalten lassen?
Christoph Ammann: Bei der Selbstverpflichtung geht es nicht darum zu moralisieren: Viel mehr wollen wir aufzeigen, dass Fleischkonsum nicht mehr der Normalfall sein muss und darf. In Kirchgemeinden wird viel gekocht. Wir wollen die pflanzenbasierte Ernährung fördern, denn es gibt durchaus leckere Alternativen zum Fleischverzehr. Die Selbstverpflichtung will das Bewusstsein schärfen, dass ein kirchlicher Mittagstisch ethische Implikationen hat – genauso wie die Bewirtschaftung des Gartens.

Eveline Schneider Kayasseh: Betreffend Sonntagsbraten muss man auch die Veränderung der Nutztierhaltung in den letzten etwa 100 Jahren bedenken. Früher lebte man mit den Tieren nahe zusammen auf dem Hof. Es war schlimm, wenn eine Kuh krank wurde, es hing eine Existenz damit zusammen, aber Tier und Mensch lebten auch in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Heute sieht man die Tiere oft gar nicht mehr, sie sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, allem voran die Schweine, die geradezu unsichtbar sind. Dadurch entstand eine emotionale Distanz: Menschen nehmen am Schicksal der Nutztiere oft nicht mehr teil und nehmen sie nicht mehr als Individuen mit einer Persönlichkeit wahr.

Dabei sind Haustiere wie Hund und Katze so beliebt wie nie zuvor.
Eveline Schneider Kayasseh: Bei den Haustieren verhält es sich gerade anders. Sie sind Familienmitglieder. Wer könnte sich schon die Haxe des eigenen Hundes auf dem Teller vorstellen? Dabei ist ein Schwein kognitiv und emotional mindestens genauso weit entwickelt wie ein Hund. Mit allen diesen Lebewesen teilen wir diese eine Welt, sie gehört uns nicht alleine, was wir aber bei unserem Handeln oft vergessen. Und laut der biblischen Botschaft tragen wir die Verantwortung für die Tiere. Diesem ethischen Auftrag können wir nur dann nachkommen, wenn wir Gerechtigkeit nicht nur gegenüber dem Menschen, sondern auch gegenüber Tieren walten lassen.

Aber in der Genesis heisst es doch «macht euch die Erde untertan». Wie muss man das theologisch verstehen?
Christoph Ammann: Der Herrschaftsauftrag, das so genannte «dominium terrae», war schon damals nicht als rücksichtsloses Unterwerfen der Erde gemeint. Viel mehr ist er eine Aufforderung, die Erde zu hegen und zu pflegen, der Schöpfung Sorge zu tragen. Der Mensch soll Gott repräsentieren, soll Ebenbild Gottes sein, sein Stellvertreter. Damit kommt ihm ethisch gesehen eine Sonderstellung zu, der wir gerecht werden müssen. Man findet in der Bibel zwar nirgends eine Stelle, die sagt, jegliche Nutzung von Tieren sei verwerflich. Aber Gott ist die Liebe. Die Frage ist also: Wie können wir diese Liebe auf Erden repräsentieren? Und Liebe respektiert das Gegenüber und reduziert es nicht auf die Bedürfnisbefriedigung wie in der Massentierhaltung.

Wie lassen sich Tiere besser in den Kirchenalltag integrieren?
Christoph Ammann: Die christliche Ethik hat eine grosse Affinität zum Gedanken und zur Praxis der Gewaltfreiheit. Ich denke etwa an Martin Luther King. Aber auf Tiere wird diese Einstellung praktisch nie bezogen. Wir müssen zugeben: Man findet dieses Anliegen, unser Verhältnis zu Tieren weniger gewaltförmig zu gestalten, fast ausschliesslich ausserhalb der Kirchen. Das gibt mir zu denken. Dabei gibt es viele klassisch theologische Themen oder christliche Einstellungen, die das Verhältnis zu den Tieren verändern könnten. Daher finde ich es auch richtig und wichtig, Tiere in die gottesdienstliche Sprache aufzunehmen, sie zum Beispiel in Fürbitten zu integrieren. Oder Bestattungen für Tiere anzubieten. Hier spüre ich innerhalb der Kirche einen grossen Wandel – und das ist, bei aller Arbeit, die noch vor uns liegt, sehr erfreulich.

Sandra Hohendahl-Tesch, reformiert.info

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