Nichts als Leere

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28.12.2020
Die Kirchgemeinde Gäu renoviert zurzeit ihren Kirchturm. Voller Vorfreude stieg man auf die Kirchturmspitze, um die Kugel zu öffnen. Man wollte nachsehen, was die Reformierten 1956 hinterlegt hatten.

Die Reformierte Kirchgemeinde Gäu in Egerkingen saniert zurzeit den Turm und das Dach der Paulus-Kirche. Deshalb ist der Turm eingerüstet. In freudiger Erwartung trafen sich Anfang Dezember der Pfarrer und vier Mitglieder der Kirchgemeinde, um gemeinsam mit einem Fachmann der Firma Muri-Bär die Kirchturmspitze zu entfernen. Sie erhofften sich, in der Kugel Historisches aus dem Jahr 1956 zu finden. «Wir waren gespannt, was unsere Vorgänger in der Zeitkapsel für die kommende Generation hinterlassen haben», erzählt Rita Bützer, Vizepräsidentin der Kirchgemeinde. «Dokumente? Zeitungsausschnitte? Oder gar etwas Wertvolles?»

Paulus-Kirche vor 130 Jahren gebaut
Die Paulus-Kirche geht zurück auf das Jahr 1889. Mit viel Eigenleistung und einem Grundstück, das ihnen Gewerbler geschenkt hatten, errichteten die Reformierten in der Nähe des Bahnhofs ihre Kirche. 1989 fand die Einweihung statt. Rund sechzig Jahre später konnte die Kirchgemeinde mithilfe der Sammlung des Protestantisch-kirchlichen Hilfsvereins und des Bettagsbüchlein-Fonds die Paulus-Kirche umfassend renovieren und erweitern.

Mit einem mulmigen Gefühl erklimmt Rita Bützer mit den anderen das Gerüst. Es ist kalt, feuchter Nebel hüllt den Turm ein. Oben angekommen, begutachten sie die Kirchturmspitze. Auf dem Kupferhut lagert die Kugel, die einen Durchmesser von 40 Zentimeter hat. Die einstige goldene Farbe hat sich kupfrig grün verfärbt.

Die Gruppe freut sich ob des guten Zustands der Kugel und des Wetterhahns. Er sei erstaunt, sagt der Fachmann, dass die Kugel unbeschädigt sei und ohne Einschusslöcher. Ja, fügt er hinzu, er habe damit gerechnet. Früher seien Kirchturmspitzen ein beliebtes Ziel für Kleinkaliberschützen gewesen, erzählt er. Die letzte Kugel, die er im Kanton Bern demontierte, hatte zehn Einschusslöcher.

Ein leichtes Gebilde
Der Wetterhahn lässt sich leicht wegheben. Die Kirchturmspitze hingegen ist auf der Dachturmspitze festgeschraubt. Mit sanfter Gewalt löst Baukommissionspräsident Hanspeter Steiner die 75 Jahre alten Schrauben. Mit vereinten Kräften heben sie die Kirchturmspitze vom Kirchendach ab. Und dann: leer. «Wir waren erstaunt, wie leicht sich dieses Gebilde anfühlte, und dann war die Kugel leer», erzählt Rita Bützer.

Die Enttäuschung ist gross. Selbst der Fachmann räumt ein, dass es sehr aussergewöhnlich sei, dass man nichts in der Kirchturmkugel fand. Das hat er nicht erwartet. Gemeinsam trägt man alles nach unten, um es auf sicherem Boden nochmals genau zu untersuchen. Sie greifen hinein, vergeblich, selbst die Teleskopkamera blickt nur ins Leere.

Neu vergoldet und befüllt
Im Laufe der Renovation der Turmspitze werden nun die Kugel und der Wetterhahn neu vergoldet und dann mit einer Zeitkapsel aus dem Jahr 2021 befüllt. «Was die Kirchgemeinde dann an die nächste Generation in der Kugel übergeben will, steht noch nicht fest», sagt Rita Bützer.

Am Abend setzt sich Rita Bützer an ihren Computer und schreibt an die Medien: «Es tut uns leid, Ihnen keine Öffnung einer Zeitkapsel präsentieren zu können. Wir wissen nicht, warum unsere Vorfahren diese Chance verpasst haben, uns etwas zu hinterlassen. War es Unkenntnis, fehlendes Interesse, Geld oder Zeit? Wir werden es nie erfahren.» rb/tz

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