«Der gläserne Mensch ist Realität»

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16.09.2020
Der Theologe, Philosoph und Sozialethiker Peter G. Kirchschläger spricht am Samstag am Bodensee-Kirchen-Impulstag über die Digitalisierung der Gesellschaft. Im Interview erzählt er, wie der Mensch trotz künstlicher Intelligenz Mensch bleibt.

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft schreitet voran. Trägt Corona dazu bei?
Die Covid-19-Pandemie verstärkt diesen Trend mit Sicherheit. Denken wir nur an die Zunahme der Online-Bestellungen oder an die vielen digital stattfindenden Sitzungen. Wir müssen allerdings prüfen, ob diese Digitalisierungsschritte auch aus ethischer Sicht haltbar sind. Nur weil etwas technisch machbar ist, heisst es noch lange nicht, dass wir es auch tun sollten.

Wo liegen die Gefahren?
Nun, es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass technische Lösungen für Videokonferenzen unsere Daten stehlen und unsere Selbstbestimmung verletzen. Es braucht Geschäftsmodelle, die es ermöglichen, unternehmerische Software für Videokonferenzen anzubieten, ohne Menschenrechte zu verletzen.

Ist der gläserne Mensch bereits Realität?
Ja, absolut. Menschen als «gläserne Menschen» zu missbrauchen ist nicht nur technisch möglich, sondern leider bereits vielfach Realität. Menschen werden als ununterbrochene Datenlieferanten ausgebeutet und auf der Basis dieser Daten in ihrer politischen Meinungsbildung sowie in ihrem Konsumverhalten manipuliert. Aus ethischer Perspektive müssen wir dagegen entschieden vorgehen, damit der Mensch als «homo dignitatis» respektiert und nicht als «homo digitalis» versklavt wird.

Wie können wir das tun?
Es ist notwendig, dass wir als Gesellschaft weiterhin Sorge tragen zu unseren Werten, die wir uns jahrhundertelang erkämpft haben. Deswegen erachte ich auch den Begriff «neue Normalität» als problematisch, da mit ihm die Gefahr verbunden ist, dass inakzeptable Überwachungsmethoden, die das Recht auf Privatsphäre und den Datenschutz verletzen, zur «neuen Normalität» erklärt werden. Mir bereitet Sorgen, dass mit dem «Covid-19-Argument» versucht werden könnte, die Menschenrechte zu unterwandern. Leider hat die Menschheit solche Angriffe auf die Menschenrechte nach dem 11. September 2001 erlebt, zum Beispiel im Versuch, das Folterverbot aufzuweichen. Gegen solche Angriffe auf die Freiheit aller Menschen sollten wir gewappnet sein und uns dagegen wehren.

Was bedeutet das für die Kirchen?
Die Kirchen sollten ihre Gestaltungsverantwortung wahrnehmen und sich gezielt für die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte einsetzen. Digitale Transformation und der Einsatz von künstlicher Intelligenz geschieht ja nicht einfach, sondern wird von Menschen geformt. Kirche und Gesellschaft sollten die Zäsur durch Covid-19 nutzen, um ethisch dringend notwendige Reformen anzupacken und unsere Gesellschaft und Wirtschaft fairer und nachhaltiger zu gestalten.

Wo und wie ist der Einsatz künstlicher Intelligenz überhaupt sinnvoll?
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz kann etwas ethisch Positivem oder etwas ethisch Negativem dienen. Innovation ist ja nicht per se ethisch positiv. Bei jeder Innovation ist zu evaluieren, ob sie ethisch gut oder ethisch schlecht ist, beziehungsweise ob sie für etwas ethisch Gutes oder etwas ethisch Schlechtes eingesetzt wird. Das geschieht durch ethische Prinzipien und Normen und die darauf basierende rechtliche Regulierung.

Spielt der Mensch mit immer raffinierteren technischen Möglichkeiten Gott?
Das ist eine Frage der Verantwortung. Die Technologien werden zweifellos immer realer und bedeutungsvoller für unsere Existenz. Im gleichen Mass wächst auch die menschliche Verantwortung, diesen technologiebasierten Wandel zum Wohle der Menschen und der gesamten Schöpfung zu gestalten.

Sind wir damit nicht überfordert?
Jein. Die Menschheit hat in ihrer Geschichte gezeigt, dass sie fähig ist, das technisch Machbare nicht einfach «blind» zu verfolgen. Beispielsweise haben Menschen die Forschung im Bereich der Nukleartechnologie global reguliert, um noch Schlimmeres zu verhindern. Das lässt hoffen.

Ist die Technologie die Religion der Zukunft?
Sehen Sie, ich schlage in meinem neuen Buch vor, in diesem Zusammenhang nicht von Religion, sondern von «Datadeology» (Daten-Ideologie) zu sprechen. Es ist real, dass Entscheidungsträger von multinationalen Technologiekonzernen und Stimmen aus dem amerikanischen «Silicon Valley» als «Propheten» blind verehrt werden. Sie predigen Daten und Algorithmen als neue Wahrheit, obwohl offenbar ist, dass sie keineswegs wahr, objektiv und neutral sind. Sie sind nichts anderes als Meinungen in Form von Codes. Sie können falsch, fehlerhaft, diskriminierend und rassistisch sein.

Wie können wir uns davor schützen?
Als Menschen sind wir dafür verantwortlich, multinationale Konzerne sowie Daten und Algorithmen kritisch zu hinterfragen und uns gegen Menschenrechtsverletzungen zu wehren. Das gilt für die Nutzung von Technologien ebenso wie für die Schürfung von Rohstoffen und den Umgang mit Produktionsketten. Unser Glaube an Gott kann uns in unserem Engagement stärken und uns zum Handeln ermutigen.

Wo findet Gott in unserer technologisierten Gesellschaft Platz?
Ich glaube, Gott kann Menschen überall begegnen. Er geht auf die Menschen zu. Daran ändert auch die intensive Interaktion mit Technologien nichts. Bildschirmfreie Orte und Zeiten können sicherlich helfen, Gott zu begegnen und sind auch für zwischenmenschliche Beziehungen fundamental. Grundsätzlich muss man aber wissen, dass sich im Zuge der digitalen Transformation nicht alles ändert. Es ist kein neues Zeitalter angebrochen. Wir leben immer noch auf der gleichen Erde und sind alle als Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenwürde.

Interview: Adriana Di Cesare, kirchenbote-online

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