Ohne Treue kein Wunder

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01.10.2019
Am 9. November vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer, was kaum einer für möglich gehalten hatte. Thurgauer pflegten schon damals Kontakte in den Osten oder lebten gar dort. Sie erinnern sich.

Werner Gees steht am Bahnhof in Dessau. In 15 Minuten fährt der Zug nach Leipzig. Gees, damaliger Kirchenrat der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau, hat an diesem 5. Oktober 1989 soeben seinen sechstägigen Besuch bei Pfarrern in der Evangelischen Landeskirche Anhalts in der DDR beendet. Die Pfarrer in Anhalt und im Thurgau verbindet seit Jahren eine herzliche Freundschaft. Sie besuchen sich gegenseitig, wobei die ostdeutschen Pfarrer Gäste der Synode sind und in Thurgauer Kirchen predigen. Der Bericht von Werner Gees über die Reise in die DDR erschien Ende Oktober 1989 im Kirchenboten. Der Text endet so: «Nur wenige Leute am Bahnhof. Am Vorabend des Jubiläums 40 Jahre DDR sitzt eine Nation vor dem Fernseher und blickt über die Mauer in den Westen, in ein Traumland, das so nah ist, in das die meisten aber doch nicht hinkommen können.»

Für unwahrscheinlich gehalten
Tatsächlich hätte niemand gedacht oder zu hoffen gewagt, dass die Mauer eines Tages fallen würde, sagt Ernst Ritzi, Aktuar des Kirchenrates der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau. 1980 stand er als 21-Jähriger mit einer Besuchergruppe aus der Schweiz im Reichstagsgebäude in Berlin. «Der Reiseführer erzählte, dass hier, sollte es zu einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kommen, das gesamtdeutsche Parlament tagen würde. Wir haben uns aber nicht getraut zu sagen, dass wir eine Wiedervereinigung für unwahrscheinlich, wenn nicht gar für unmöglich hielten.»

Lebensfroh in Unfreiheit
1978 war Ernst Ritzi bereits in Berlin gewesen. Der Stempel «Friedrichstrasse» in seinem Pass erinnert ihn daran, «dass wir damals mit der Jugendgruppe aus Neukirch an der Thur in Westberlin waren und täglich nach Ostberlin fuhren, wo wir uns mit jungen Christinnen und Christen aus der DDR zu Bibelarbeit, Gesang, Gemeinschaft und Gesprächen trafen. Mich haben die jungen Menschen in der DDR beeindruckt. Sie waren lebensfroh, obwohl sie – mit westlichen Augen gesehen – in der Unfreiheit lebten». Die jungen Christinnen und Christen hätten offen darüber gesprochen, dass ihre Chancen auf einen Studienplatz minim wären, wenn sie die Jugendweihe des Staates verweigern oder sich neben der Jugendweihe konfirmieren lassen würden.

Freiheit ist mehr als Konsum
Ritzis Fazit: «Die Begegnung mit Menschen hinter dem Eisernen Vorhang hat mir klar gemacht, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, in einem Rechtsstaat wie der Schweiz zu leben, in dem die Meinungsfreiheit einen hohen Stellenwert hat und in dem Demokratie gelebt wird, obwohl es auch bei uns – damals wie heute – Zivilcourage braucht, wenn man Missstände und Probleme anspricht.» Seit jener Begegnung mit jungen Menschen in der DDR wisse er, dass Freiheit mehr ist, als sich in der Konsumgesellschaft alle Wünsche erfüllen zu können. «Ich habe in der DDR glückliche Menschen kennengelernt, die meisten von ihnen waren bekennende Christen. Sie wollten nicht in den Westen. Sie haben in ihrer Heimat glaubhaft und glaubwürdig zu leben versucht und sie haben beim Fall der Mauer eine wichtige Rolle gespielt. Ich bin dankbar, dass ich – aus der Ferne – ein Stück Weltgeschichte erleben durfte: Ein Wunder, auf das zehn Jahre vor dem Mauerfall niemand zu hoffen gewagt hat.»

Engagiert und eigenständig
Wilfried Bührer, heutiger Thurgauer Kirchenratspräsident, schrieb in der Februarausgabe 1990 des Kirchenboten über die Kirchen in der DDR: «Was die Stärke dieser Kirchen ausmacht, ist die grosse Treue und Eigenständigkeit von einzelnen Christen, von christlichen Gruppierungen, von kirchlich Engagierten und von Kirchenleitungen.» Und wie steht es mit Treue und Eigenständigkeit bei uns? Pfarrer Bührer: «Wir sollten nicht darauf warten, bis wir sie in Notzeiten unter Beweis stellen müssen. Wir tun gut daran, uns jetzt schon darin zu üben.» Der Kirchenbote hat die Situation der evangelischen Christen im damaligen Ostblock aufmerksam beobachtet, was sich in zahlreichen Artikeln zwischen 1987 und 1991 zeigt. Dabei blieb es nicht bei verbaler Unterstützung. Ein Beispiel unter vielen: 1990 ging die Bettagskollekte der Thurgauer Evangelischen in der Höhe von 35’828 Franken an die Neinstedter Anstalten in der DDR, einer evangelischen Einrichtung für geistig Behinderte: Der Höhepunkt in einer rührenden Geschichte, die mit der Anfertigung von 500 Zeichnungen von Thurgauer Sonntagschülern für Kinder und Jugendliche in Neinstedt begonnen hatte.


Lesen Sie per Klick auf den Namen weitere Augenzeugenberichte:

- Pfarrerin Rosemarie Hoffmann
- Pfarrer Hendrik de Haas


(Esther Simon, 19. September 2019)

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