Notfallseelsorge

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27.09.2019
Die Einsätze der Notfallseelsorger nehmen rapide zu. Christoph Beeler, 57, Co-Leiter der Notfallseelsorge, erzählt aus seinem bewegenden Alltag, wie Angehörige aus der Ohnmacht zurück ins Leben finden, und wie sich seine Sicht auf das Leben veränderte.

Herr Beeler, welcher Einsatz blieb Ihnen bislang am stärksten in Erinnerung?

Ein Carunfall, bei dem wir 15 verschiedene Betreuungsaufträge hatten. Oder ein Einsatz in einer Familie mit plötzlichem Kindstod. Die Eltern waren in der Früh in das Kinderzimmer gekommen und fanden ihr Kind tot. In so einem Moment verliert man den Boden unter den Füssen. In solchen Situationen muss man auch erklären, was all die fremden Leute mitten in ihrer Wohnung machen, die von der Staatsanwaltschaft für Abklärungen aufgeboten werden.

Wie läuft ein Einsatz ab?

Wir lösen meist den Rettungsdienst ab und versuchen dann den -Angehörigen Sicherheit zu geben, klären mit ihnen ihre Bedürfnisse und Wege, damit sie wieder Tritt fassen können im Leben. Nach einem Verlust spielen die eigenen Gedanken oft verrückt. Manchmal funktionieren banale Dinge nicht mehr, andere sind von ihren Gefühlen überwältigt. Wir unterstützen sie darin, möglichst viel selber zu machen, etwa zu telefonieren oder sich Wasser zu holen. Ziel ist es, raus aus der Ohnmacht, zurück in die Handlungsfähigkeit zu kommen. 

Was ist für Betroffene häufig das Schwierigste?

Das schwierigste ist die Ohnmacht. Deshalb unterstützen wir sie, das Geschehene in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen oder Erinnerungslücken zu schliessen. Die Psyche kann mit Bruchstücken nichts anfangen und muss sich erst langsam an das Ereignis gewöhnen. Wenn man über das Geschehene reden kann, hat man bereits einen Teil der Macht über das Ereignis zurückgewonnen. 

Gibt es eine Strategie, die immer hilft?

Es hilft, die nächsten Schritte zu besprechen. Wir machen quasi eine Checkliste. Damit wird die Zukunft wieder überschaubar, den Arbeitgeber anrufen, Schulen informieren, eine Todesanzeige aufgeben. Dazu gehört auch zu erklären, welche Reaktionen auftreten können, Erinnerungsflash, Kopfweh, Schuldgefühle. Die Psyche benötigt diese Reaktionen, damit sie sich langsam daran gewöhnen kann. Sie muss sortieren, was erlebt wurde. Innerhalb von zwei bis drei Wochen klingt psychischer Schmerz wieder ab. Dieses Wissen gibt den meisten -Sicherheit.   

Wovon raten Sie ab? 

Grundsätzlich sollte man eine 
Situation nicht bewerten oder eine Schuldzuteilung machen. Die Deutung eines Ereignisses ist Sache des Betroffenen. Man soll auch nicht -sagen, das ist schrecklich oder das kommt schon gut. Wir haben die Fakten nicht. Man soll sagen, was ist, nicht, was sein könnte. 

Wie lange bleiben Sie in der Regel?

Wir sind ein erstes Sicherheitsnetz, bis Angehörige oder Freunde da sind. Meist können wir uns nach zwei bis drei Stunden zurückziehen. Aus-ser es handelt sich um Vermisste, Menschen, die in Lebensgefahr schweben oder deren Haus noch brennt, also ich bleibe, wenn das Ausmass des Verlustes noch nicht absehbar ist. Da kann es schon mal länger gehen. Aber es macht keinen Sinn, wenn wir etwa bei Angehörigen übernachten. Da wäre die Gefahr gross, zu nahe dran zu sein. 

Wie schaffen Sie es, Leid nicht an sich ranzulassen?

Man muss selbst gut im Leben stehen. 

Gibt es Schicksalsschläge, über die man nicht hinwegkommt?

In 97 Prozent der Fälle klingt der Schmerz ab. Ein Schicksalsschlag ist wie eine Wunde, die wehtut, aber heilt. In den Medien liest man manchmal, dass viele Betroffene nach einem grossen Ereignis langfristig traumatisiert seien. Das kann man im Moment gar nicht beurteilen. Das ist nur bei drei Prozent der Fall. Natürlich bleibt die Erinnerung. Wie eine Narbe. Aber in der Regel kann man mit einer Narbe gut umgehen. 

Hat sich Ihre Sichtweise auf das Leben verändert? 

Ich habe gelernt, dass der Mensch ungeheure Kräfte freisetzen kann, die ihm helfen, weiterzuleben. Das ist -etwas sehr Hoffnungsvolles. 

Weshalb steigt die Zahl der Einsätze der Notfallseelsorger Jahr für Jahr? 

Früher rückte nur ein Notfallseelsorger bei einem Einsatz aus. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es besser ist, wenn man zu zweit geht. Zudem sind die Einsätze heute komplexer. Es gilt oft nicht nur Familien zu begleiten, sondern auch deren Ex-Partner in den verschiedensten Familienkonstellationen und deren Kinder. Ausserdem ist das Care-Team bei Rettungskräften und der Polizei bekannt und wird deshalb öfters gerufen.

Wie viel verdient ein Notfallseelsorger? 

Ich kenne niemand, der diese Aufgabe des Geldes wegen macht. Es ist vielmehr die Herausforderung, andere Menschen in belastenden Situationen zu unterstützen. Unser CareTeam funktioniert ähnlich wie die Feuerwehr. Es ist Freiwilligenarbeit, aber die Einsatzstunden werden entschädigt. Alle Mitarbeiter unseres Teams haben einen Haupterwerb. Die Einsätze machen sie während ihrer Arbeitszeit. Der Arbeitgeber erhält dafür einen Erwerbsausgleich. 

 

Carmen Schirm-Gasser

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