Graben zwischen West und Ost

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20.11.2018
Die jüngste Studie des amerikanischen Pew-Instituts zeigt grosse Unterschiede in den religiösen Einstellungen zwischen West- und Osteuropa. Die befragten Schweizerinnen und Schweizer bezeichnen sich als weniger religiös als die meisten anderen Europäer.

Im Westen Europas schwindet das Zugehörigkeitsgefühl zum Christentum, während in ost- und zentraleuropäischen Ländern dieses seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zugenommen hat. So lautet das Fazit einer Ende Oktober veröffentlichten Studie des amerikanischen Pew Research Centers. Das Meinungsforschungsinstitut befragte zwischen 2015 und 2017 über 50‘000 Personen in 34 europäischen Ländern über die Bedeutung von Religion, die Einstellung gegenüber Minderheiten und soziale Fragen wie Ehe für alle oder Abtreibung.

Die befragten Schweizerinnen und Schweizer reihen sich in den Trend Westeuropas ein: In der Schweiz empfinden 9 Prozent, dass Religion für ihr Leben sehr wichtig sei. Die Eidgenossenschaft belegt damit Platz 31 – gefolgt einzig noch von Dänemark, der Tschechischen Republik und Estland. Knapp die Hälfte der befragten Schweizerinnen und Schweizer empfinden Religion in ihrem Leben als eher wichtig.

Religion wichtig in Krisen
Urs Winter-Pfändler vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) in St. Gallen sieht in diesen Zahlen auch Schweizer Umfragen bestätigt. «Zwei Drittel der Landeskirchenmitglieder bezeichnen sich als distanziert», sagt Winter-Pfändler. Während für diese im Alltag Religion selten wichtig sei, spiele sie in Lebenskrisen jedoch eine wichtigere Rolle. «Befinden sich Menschen in Krisen, sind sie mit dem Sterben konfrontiert, dann sagt eine Mehrheit der Mitglieder einer Landeskirche, dass Religion für sie (eher) wichtig ist», fügt der katholische Theologe an.

Gemäss der Pew-Studie praktizieren die befragten Schweizerinnen und Schweizer ihren Glauben selten: Gerade mal 8 Prozent geben an, täglich zu beten. Nur die Briten und Österreicher beten weniger als die Eidgenossen. Immerhin geben 29 Prozent der Schweizer an, mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst zu besuchen – während 61 Prozent der Polinnen und Polen mit dem höchsten Anteil die Frage mit Ja beantworten.

Ein weiterer tiefer Wert der Studie erreichen Schweizerinnen und Schweizer bei der Frage nach dem Glauben an Gott: 11 Prozent beantworten dies mit einem zweifelsfreien Ja. Einzig in Deutschland ist der Anteil jener Menschen, die zweifelsfrei an Gott glauben, minim kleiner. Wie in den meisten Fragen bekennen sich auch hier punkto Religiosität die Bewohner orthodoxer Länder in Osteuropa als religiöser. Während in Georgien 99 Prozent aussagen, an Gott zu glauben, tun dies 62 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer.

Trennung von Kirche und Staat?
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz bezeichnen sich in der Studie als immer weniger religiös. 81 Prozent sind als Christen erzogen worden, 75 Prozent identifizieren sich derzeit als Christ. Die Religion spielt im Zusammenhang mit dem Staat eine eher wichtige Rolle. Während rund 80 Prozent der Finnen und Schweden sich für die Trennung von Kirche und Staat aussprechen, wollen nur 54 Prozent der Schweizer einen eindeutig säkularen Staat. Die Schweiz gehört damit zu den Ländern in Westeuropa mit dem geringsten Zuspruch. Tiefer ist der Wert nur in Rumänien, Belarus, Bulgarien, Russland, Litauen, Georgien und Armenien. Auch geben Schweizerinnen und Schweizer im Vergleich mit den anderen westeuropäischen Ländern mit 45 Prozent die höchste Zustimmung, dass die Regierung religiöse Werte unterstützen und fördern solle.

Auch in diesem Resultat sieht Urs Winter-Pfändler vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) andere Umfragen bestätigt: «Die Umfrage der Kirchenreputation 2015 ergab, dass die meisten kantonalen Parlamentarier das jetzige Verhältnis zwischen Kirche und Staat als gut bezeichneten.» So hätte sich beispielsweise die Mehrheit der an der Studie teilnehmenden Kantonsparlamentarier dafür ausgesprochen, dass Seelsorge im Gesundheitswesen weiterhin von den Kirchen angeboten werden sollte.

Gemäss der Pew-Studie vertreten 42 Prozent der erwachsenen Schweizer die Ansicht, ein echter Schweizer sei nur, wer Christ sei. Ein grösserer Zuspruch für den Zusammenhang von nationaler Identität und Christsein in Westeuropa ist nur in Portugal, Italien und Irland erkennbar. Die Höchstwerte mit über 80 Prozent verzeichnen Armenien und Georgien, wo die Orthodoxie die nationale Identität formt.

In den Fragen über die Ehe für alle oder die Abtreibung vertreten Schweizerinnen und Schweizer die Haltung der anderen westeuropäischen Länder: 57 Prozent der Schweizer würden Muslime als Familienangehörige akzeptieren, 75 Prozent sprechen sich für die Eheschliessung homosexueller und lesbischer Paare aus.

Zur Studie

Nicola Mohler, reformiert.info, 20. November 2018

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