Dankbar für Verwertbares

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22.09.2017
Ende Oktober wird im Thurgau das Erntedankfest in den Gottesdiensten gefeiert. Eine Tradition von wechselnder Bedeutung in unserer heutigen Überfluss-Gesellschaft.

Dankbar sein für eine gute Ernte, dankbar sein für das tägliche Essen – dies scheint für sehr viele Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr von Bedeutung. Rund ein Drittel der Lebensmittel in unserem Land wird weggeworfen, jährlich zwei Millionen Tonnen. Gemäss einer Studie von WWF Schweiz und foodwaste.ch wandern fast die Hälfte (45 Prozent) der zwei Millionen Tonnen in privaten Haushalten in den Abfalleimer. Die Verluste in der Landwirtschaft werden auf mindestens 13 Prozent geschätzt, in der Verarbeitungsindustrie auf 30 Prozent. Der Detailhandel und die Gastronomie werfen je 5 Prozent weg und die Grossverteiler 2 Prozent.

Lebensmittel vor Vernichtung retten

Im Gegensatz zu dieser Verschwendung gibt es Menschen am Rande unserer Gesellschaft, die nur wenig Geld für Lebensmittel zur Verfügung haben. Die gemeinnützigen Organisationen «Tischlein deck dich» oder «Schweizer Tafel» haben es sich zur Aufgabe gemacht, einwandfreie Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten und an armutsbetroffene Menschen abzugeben. Die Kunden müssen sich mit einer Bezugskarte ausweisen und bezahlen pro Einkaufskorb einen symbolischen Franken. Die Lebensmittel-Spenden kommen vorwiegend von den Grossverteilern und aus der Landwirtschaft.
Nebst den grossen Hilfsorganisationen gibt es auch die kleinen, die sich gegen die Lebensmittelverschwendung engagieren, wie der Verein «VerwertBAR» in Kreuzlingen. In der Sakristei in der evangelischen Kirche Kurzrickenbach werden jeweils am Dienstag- und Freitagmorgen noch essbare Lebensmittel kostenlos abgegeben, eingesammelt bei lokalen Lebensmittelläden. Das Angebot
ist konfessionell und parteipolitisch unabhängig und steht allen zur Verfügung. So wird mit einem Teil der Nahrungsmittel für Menschen mit eingeschränkten finanziellen Mitteln oder für Menschen, die sich allgemein gegen Lebensmittelverschwendung wehren, eine Möglichkeit der Gratisverpflegung geschaffen. Auf Facebook wird zudem jeweils gepostet, wenn Essensreste einer grossen Party zum Abholen bereit stehen.

Ein Augenschein vor Ort

Dass dieses Angebot grossen Anklang findet, zeigte ein Augenschein vor Ort. An einem Freitagmorgen im September war die Menschenschlange vor der Sakristei lang. Vom Rentner bis zur jungen Mutter – alle warteten geduldig auf Einlass, der jeweils in Fünfergruppen erfolgte. Die ehrenamtlichen Helferinnen Hildegard Kneubühler und Irene Eberle hatten den Ansturm fest im Griff, standen hinter den voll beladenen Tischen und erklärten ihren Kunden, wie viele Salate, Rüebli oder Brote sie einpacken dürfen. «Wir kennen den Hintergrund unserer Kunden nicht, das hat uns auch nicht zu interessieren», sagt Irene Eberle.

Am Dienstag- und Freitagmorgen darf man bei der Kirche Kurzrickenbach aber nicht nur die Taschen füllen – gleich nebenan im Haus Weisser sind Tische gedeckt und alle sind herzlich zu einem Kaffee oder Mineralwasser eingeladen, dazu gibt es – ebenfalls kostenlos – Gipfeli, belegte Brötli und ein freundliches Wort. Dafür sorgen der evangelische Pfarrer Damian Brot und sein Team von freiwilligen
Helfern. Sie haben ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen. «Open Place» nennt sich das. Die Kirche müsse dort hingehen, wo die Menschen sind, und ihnen eine Plattform für Begegnungen bieten, so das Anliegen des Pfarrers. Insofern würden sich die VerwertBAR und das Open Place bestens ergänzen.

 

(Barbara Hettich, 24.09.2017)

 

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