Karin Keller-Sutter: «Der Bettag verliert leider an Bedeutung»

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06.09.2017
36-jährig kam sie in die St. Galler Regierung. Diesen November – 17 Jahre später – soll sie den Vorsitz der kleinen Kammer in Bern übernehmen: Die Schweiz kennt Ständerätin Karin Keller-Sutter als Vollblutpolitikerin. Sie stieg aber auch schon am Bettag auf die Kanzel.

Das Elternhaus war für Karin Keller-Sutter prägend, im Speziellen ihr Vater. Er führte die «Ilge», ein gutbürgerliches Restaurant in der Stadt Wil. Hier verkehrten Leute aus allen Schichten. Es wurde diskutiert, politisiert, mehrere Tageszeitungen standen den Gästen zur Verfügung. Karin Keller-Sutter las darin, hörte den Gesprächen zu. Auch ihrem Vater. Er, der ohne Murren tausend Aktivdiensttage leistete, liberal dachte, Gewerbler durch und durch war, mit dem Staat verbunden, aber doch kritisch gewesen sei, sagt sie. Ihr Vater habe sich dankbar gezeigt gegenüber der Schweiz, wo die Bevölkerung in Frieden und Sicherheit leben durfte. Dies sei jeweils am Bettag spürbar gewesen, so die 53-Jährige.

 

Frau Keller-Sutter, wie begingen Sie den Bettag?
«Als Kind ist mir vermittelt worden, dass dieser Tag wichtig sei, sakulärer als Weihnachten, kein Heiliger im Zentrum stehe, sondern der Staat, und wir dankbar sein müssten, dass wir hier in Frieden lebten.»

Welche Bedeutung hat der Bettag für Sie heute?
«Ich bin mir seiner Bedeutung sehr bewusst und der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ist wichtig für unser Land. In einer Zeit, wo die Individualisierung dermassen zugenommen hat, müssen wir uns immer wieder überlegen, dass es jetzt erst recht ein gemeinsames Fundament braucht, wir die gemeinsamen Werte nicht vergessen dürfen. Zentral dabei sind für mich der Frieden, die Sicherheit, der Wohlstand und die Solidarität.»

 

Diese Verbundenheit spürt die Politikerin an den Nationalfeiern, wo sie Jahr für Jahr eine Rede hält: «Der 1. August hat seit seiner Einführung 1994 als gesamtschweizerischer arbeitsfreier Tag die Rolle des Bettags übernommen.» Trotzdem hätte dieser eine Aufwertung verdient, sagt Keller-Sutter. Sie selbst stieg einst am 3. Septembersonntag in der Stadtkirche Wil auf die Kanzel und predigte. Wer den Kirchenbesuch aus seinem Vokabular gestrichen habe, für den sei der Blick von aussen heilsam. «Wir können uns in der Schweiz frei bewegen, müssen nicht fürchten, dass uns jemand wegen einer Halskette ermordet.» Unsere Werte seien zu bewahren. «Nicht, indem alles dem Staat delegiert wird, sondern indem wir einander helfen, auch im Kleinen.» Keine leeren Worte. Die Ständerätin betreut und bekocht, wenn immer möglich, eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter.

Geschichtsbewusstsein verloren
«Fragt man heute nach dem Sinn des Bettags, wissen wohl neun von zehn Personen kaum mehr, weshalb dieser Feiertag eingerichtet wurde», vermutet die Ständerätin. 1639, nach mehreren Seuchenepidemien während des Dreissigjährigen Krieges wurde in St. Gallen erstmals ein Buss- und Bettag durchgeführt. «Der Bettag verliert an Bedeutung, es geht uns allen gut. Während des Dreissigjährigen Krieges, bei drohenden Gefahren oder Naturkatastrophen hatte der Buss- und Bettag mehr Gewicht», sagt Karin Keller-Sutter. Den Verlust dieses Geschichtsbewusstseins bedauert die Wilerin. Der Individualismus habe im Gegenzug dazu stark zugenommen. Praktisch sämtliche Lebensformen seien möglich, egal ob jemand «schwarz oder gelb, katholisch, reformiert, jüdisch oder muslimisch» sei, und allen ginge es wirtschaftlich viel besser als früher.

Wohlstand, Sicherheit, Bildung
«Es wird schnell vergessen, was wir haben: Die direkte Demokratie, in der die Menschen mitbestimmen, den Föderalismus, der auch für Europa hochaktuell ist: Nicht die Elite bestimmt, sondern die Basis», betont die Ständerätin. Die Schweiz, so Keller-Sutter, böte Wohlstand, Sicherheit und Bildung. «Jeder, jede hat die Möglichkeit, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Der Staat ist bemüht, jeden durchzutragen.» Leider entstehe dabei der Eindruck, es werde Wohlfühlpolitik betrieben. «Stimmen werden laut, man vergesse, wer eigentlich die Gesellschaft trage.» Dies seien Zerrbilder. Abweichende Verhalten würden von den Medien aufgebauscht. Als Regierungsrätin stand Karin Keller-Sutter dem Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen vor. Sie sorgte unter anderem für einen besonderen Schutz für Opfer von häuslicher Gewalt. Sie engagierte sich für den konsequenten Vollzug des neuen Asyl- und Ausländergesetzes und führte Integrationsvereinbarungen ein. Für sie sei es wohltuend, zu wissen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung ihrer guten Situation bewusst sei. «Und sie engagiert sich, zeigt sich solidarisch: In den Vereinen, in Serviceclubs, bei Hilfsaktionen.»

 

Wie kommt es, dass Sie – in einem äusserst katholischen Umfeld grossgeworden – bei den Freisinnigen politisieren?
«Es war die liberale Überzeugung, die Selbstbestimmung des Einzelnen, die mich zur FDP hinzogen. Das Interesse an der Aufklärung, das Gedankengut ihrer Philosophen faszinierten mich. Zudem befürwortete ich weder das Frauenbild, die ablehnende Haltung gegenüber der Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch noch die Drogenpolitik der Katholischkonservativen.»

 

Vor einigen Jahren predigte Karin Keller-Sutter in der reformierten Kirche Kappel über «Gerechtigkeit und Strafe». «Strafen heisst auch, sich mit anderen auseinanderzusetzen, sie ernst zu nehmen. Die Einsicht, dass das Gegenüber in jedem Fall fair behandelt werden muss, dass ihm auch die Gelegenheit gegeben wird, aus seinen Fehlern zu lernen und es fortan besser zu machen, hat bereits Jahrhunderte überdauert», sagte sie damals.

Katharina Meier, kirchenbote-online, 6. September 2017

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