Ferien vom Krieg

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12.12.2016
Unvorstellbar, dass heute jemand freiwillig nach Aleppo zurückkehrt. Doch die armenische Christin Suzan Khachigian-Apartian will nach neunzig Tagen in der Schweiz wieder zurück in den Krieg. Zuvor berichtet sie, wie das Leben in der umkämpften Stadt funktioniert und welchen Beitrag die örtliche Kirche leistet.

Die gebürtige Libanesin Suzan Khachigian-Apartian kam als 23-Jährige nach Aleppo. Sie folgte ihrem vor 20 Jahren verstorbenen Mann in dessen Heimatstadt, wo sie drei Kinder grosszog. Ihre jüngste Tochter, Houry Dora Apartian, lebt seit 2010 mit ihrem Schweizer Ehemann und zwei Kindern in Riehen. Ende August nahm Suzan die beschwerliche und lebensgefährliche Reise vom Norden Aleppos zur libanesischen Grenze auf sich und flog von Beirut in die Schweiz, um ihre Tochter und ihre beiden Enkel zu sehen. «Es ist das zehnte Mal, dass ich meine Tochter besuche, seit sie in Riehen lebt», erzählt die 71-Jährige in gutem Englisch. Noch nie war es so schwierig.

Khachigian-Apartian arbeitet in Aleppo ehrenamtlich in der armenischen Kirche. Die Kirche betreibt ein grosses Zentrum mit eigener Sozial- und Gesundheitsarbeit und Schulen, darunter auch ein Gymnasium. Der Schulbetrieb wird aufrechterhalten, viele Lehrer arbeiten ehrenamtlich. Die Kirche liegt im nördlichen Stadtteil Suleymaniye, einer Gegend, in der hauptsächlich Christen leben.

Suleymaniye ist als einer von wenigen Stadtteilen bisher von Strassenkämpfen verschont geblieben. Dennoch gibt es Strom nur über ölbetriebene Generatoren und nur unregelmässig Wasser. Die Kirche und ihre Arbeit werden von ausländischen Spendern unterstützt. «Früher kümmerten wir uns um arme Menschen unserer christlichen Gemeinde, die Unterstützung brauchten», erzählt Khachigian-Apartian, «heute um alle Menschen, Christ oder nicht Christ.»

Die Hoffnung nicht verlieren
Es mag erstaunen, dass in einer Stadt, die nunmehr seit viereinhalb Jahren vom Krieg zerrüttet wird, Waren noch immer mit Geld bezahlt werden und nicht etwa mit Tauschhandel. Die Preise der Lebensmittel seien um das Vier- bis Fünffache zum Vorkriegsniveau gestiegen, erzählt Khachigian-Apartian. Es gebe nur noch einen intakten Marktplatz in Suleymaniye.

Doch immer weniger Menschen haben ihrer Erzählung nach das Geld, um sich das Notwendige zu leisten. Die armenische Kirche gibt am Ende jeden Monats spendenfinanzierte Pakete mit Medizin, Körperpflege und haltbaren Lebensmitteln heraus.

Der «glücklichste Teil» ihrer Arbeit in Aleppo ist für Khachigian-Apartian die Rückkehr der Menschen zum Glauben: «Sie brauchen das Wort Gottes.» Sonntags sind nun 200 Menschen in den Gottesdiensten; und ihrer Bibelstudiengruppe gehören 60 Frauen an. «So verlieren wir keine Hoffnung und werden ermutigt weiterzumachen», erklärt Khachigian-Apartian. «Die Menschen sind sehr dankbar.»

Nicht wissen, wem man trauen kann
Es ist der erste Krieg, den Khachigian-Apartian erlebt, auch wenn der libanesische Bürgerkrieg (1975 bis 1990) nie weit weg war. «Manchmal denke ich darüber nach, wo der Ort sein wird, an dem ich sterbe», erzählt sie. «Aber es gibt so viele Dinge zu tun. Wir können nicht einfach mit allem aufhören; wir können nicht die Schulen und Kirchen schliessen.

Im Krieg ist man nirgends sicher.» Dreimal wurde das Kirchenzentrum von Raketen getroffen, zweimal das Schulgebäude, einmal die Kirche selbst. «Die Rakete streifte das Kirchendach. Das Loch war genau über der Orgel, wo ich immer spiele», erzählt sie.

Aber nicht nur die Raketen stellen für Khachigian-Apartian eine Gefahr dar. Muslime fliehen aus den umkämpften Stadtvierteln und nutzen die Wohnungen, die die Flüchtlinge in Suleymaniye zurückgelassen haben. «Es gibt sehr nette Muslime», betont Khachigian-Apartian, «aber man weiss nie, wer zu welcher Fraktion gehört und wem man trauen kann.»

Zerstörung bis zur Unkenntlichkeit
Während die syrische Armee Assads in den vergangenen Tagen im Osten der einstigen Zwei-Millionen-Stadt, in den Quartieren, wo hauptsächlich Muslime aller Konfessionen lebten, immer weiter vordringt und erneut 10’000 Menschen auf der Flucht sind, war der Stadtteil Suleymaniye seit Beginn des Krieges in der Hand der Regierung.

«Assad beschützt die Christen, weil sie ihm noch nie Probleme bereitet haben», sagt Khachigian-Apartian. «Wir lebten gut. Jeder hatte Arbeit und unsere Kinder konnten zur Universität gehen.» Es klingt wie eine Rechtfertigung, wenn Khachigian-Apartian das sagt. Und als Westeuropäer möchte man eine solche auch erwarten, wenn eine Syrerin Assad verteidigt. Doch das sind eitle Gedanken, so weit weg vom Krieg: «Als Zivilist überlegt man sich: Wer wird mich die ganze Zeit über beschützen? Wenn Assad gestürzt wird, wer wird nach ihm das Sagen in Suleymaniye haben?»

«Ich konnte mir nie vorstellen, dass Syrien ein Kriegsgebiet werden könnte», erzählt die Tochter Houry Dora Apartian. Immer wieder ist die Sängerin im Libanon, wo vorerst auch ihre ältere Schwester lebt, die mit dem heutigen Pfarrer der Kirche von Suleymaniye verheiratet ist. Ihre Heimatstadt Aleppo hat Houry Dora aber seit 2010 nicht mehr gesehen. «Ich wäre sicher sehr geschockt, wenn ich nun die Verheerung sähe», sagt sie. «Syrien war ein sehr schönes Land.»

Auch ihre Mutter bestätigt, dass man in Aleppo nicht mehr wisse, wo man sich befinde, wenn man sich durch die Stadt bewege: «Es gibt kaum noch Häuser, an denen man sich orientieren könnte.»

An Weihnachten zurück in Aleppo
Um zum Flughafen nach Beirut und damit in die Schweiz zu kommen, musste sich Khachigian-Apartian auf einen erfahrenen und vertrauenswürdigen Taxifahrer verlassen: «Mit dem eigenen Auto zu fahren ist lebensgefährlich», sagen Tochter und Mutter übereinstimmend.

Zehn Stunden dauert die Reise zur libanesischen Grenze, die gerade mal 150 Kilometer entfernt ist. Allein drei bis vier Stunden seien nötig, um aus Aleppo herauszukommen.

Tatsächlich wurde Khachigian-Apartians Taxi schon zwanzig Minuten ausserhalb Aleppos von kurdischen Kämpfern angehalten. «Sie konnten erst weiterfahren, als ein russischer Panzer kam und sie eskortierte», erzählt Houry Dora Apartian die Abenteuer ihrer Mutter.

Und nun geht es also wieder zurück. Vorerst fliegt Khachigian-Apartian nach Beirut zur ältesten Tochter, wo sie eine Weile bleiben wird. Für immer in Beirut zu wohnen, komme für sie aber nicht in Frage. «Vielleicht kehre ich an Weihnachten nach Aleppo zurück, wenn es keine Bomben mehr gibt», sagt sie. Es bleibt abzuwarten, ob ihr Assads Armee, die bereits den Sieg über die Rebellen in Aleppo feiert, diesen Gefallen tun wird.

Boris Burkhardt / ref.ch / 12. Dezember 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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