Der Beginn der "evangelischen" Predigten im Appenzellerland

Von einem Fass voll Bücher und der Glaubensfreiheit

von Barbara Signer
min
01.04.2024
Die Reformation verlief im Appenzellerland zwar nicht konfliktfrei, doch kam es auch nicht zu Gewaltexzessen wie andernorts. Dies ist zu einem guten Teil der damaligen politischen Struktur und dem umsichtigen Vorgehen der Regierung zu verdanken.

Am 12. Januar 1522 erhielt der St. Galler Reformator Joachim von der Watt, besser bekannt als Vadian, einen Brief, in dem ihn sein Schwager und späterer Rädelsführer der Täufer in St. Gallen, Konrad Grebel, darüber informierte, dass ein Fass voll Bücher für Johannes Hess, dem damaligen Kaplan in Appenzell, bereit zur Abholung sei. Dieses Fass voll Bücher wird auch einige Reformationsschriften enthalten haben, denn noch im gleichen Jahr begann Johannes Hess in Appenzell «evangelisch» zu predigen.[1] Der Chronist der Appenzeller Reformation, der Hundwiler Pfarrer Walter Klarer, weiss zu berichten, dass die Leute anfingen, von der Reformation „reden, Buechlij leßen und zweÿträchtig werden.“[2]

 

[1] Caroline Schnyder: "Reformation", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013328/2013-01-29/, konsultiert am 09.04.2024.

[2] zitiert nach Thomas Fuchs, Die Reformation im eidgenössischen Ort Appenzell. in: Neujahrsblatt Historischer Verein des Kantons St. Gallen 158 (2018).

Der St.Galler Reformator Joachim von der Watt, besser bekannt als Vadian. | Quelle: wikipedia

Der St.Galler Reformator Joachim von der Watt, besser bekannt als Vadian. | Quelle: wikipedia

Komplexes Land Appenzell

Das Land Appenzell war ein komplexes Gebilde. Politisch in sechs innere und sechs äussere Rhoden unterteilt, verfügte es nur über sieben sogenannte Kirchhören, wie die Kirchgemeinden damals genannt wurden. Die inneren Rhoden bildeten eine einzige Kirchhöri, die über drei Gotteshäuser verfügte. In den äusseren Rhoden hatten Urnäsch, Herisau, Hundwil, Teufen und Gais eigene Kirchen, während die Situation in der weitläufigen Rhode Trogen schwer überschaubar war: Trogen und Grub waren selbständige Kirchhören, während Speicher zur St.Laurenzenkirche in St.Gallen gehörte. Im Nordosten hingegen waren einzelne Gemeinden am Kurzenberg und am Hirschberg entweder in Thal, Berneck oder in Marbach kirchengenössig.[1] Vielleicht sollte diese Tatsache heute wieder mehr in Betracht gezogen werden, wenn es um kirchliche Zusammenarbeit oder gar Fusion von Kirchgemeinden geht.

 

«Mues und Bort abgeschlagen sin»

In den acht Appenzeller Pfarreien waren rund 25 Priester tätig, von denen sich anfangs nur wenige für die Reformation engagierten. Jakob Schurtanner in Teufen und Johannes Hess fielen am meisten durch ihren reformatorischen Eifer auf. Und dies mit gutem Erfolg. Bereits am 8. Oktober 1523 konnte Schurtanner voller Freude Vadian berichten, dass der Rat des Landes Appenzell den Priestern mit einem Mandat das sogenannte Schriftprinzip verordnet hatte. Dieses Mandat schrieb vor, dass nur noch gepredigt und gelehrt werden durfte, was durch die Bibel beweisbar war. Sollte sich ein Priester nicht daran halten, konnte ihm „Mues und Brot, ouch alle Nahrung und Schutz und Schirm abgeschlagen sin und er uss dem Land verwissen werden.“[2] Dies betraf jedoch nur den Grundsatz des Schriftprinzips. Den Priestern war ausdrücklich erlaubt, gewohnte kirchliche Handlungen weiter zu vollziehen: Messe und Beichte wurden ausdrücklich gutgeheissen. Das Besondere an der Appenzeller Reformation ist nun, dass dieses Mandat von der Landsgemeinde abgesegnet werden musste, was auch am 24. April 1524 geschah.

 

Bildersturm in Gais und Teufen

Das Mandat konnte aber die Lage nicht beruhigen. Die Regierung wollte die Situation klären und lud im Juli desselben Jahres zu einem Glaubensgespräch, einer Disputation, nach Appenzell ein. 300 Personen folgten dieser Einladung, doch dauerte die Veranstaltung keine halbe Stunde, musste sie doch wegen tumultartigen Zuständen abgebrochen werden. Die Gegensätze zwischen Altgläubigen und reformatorischen Kräften hatten sich zu sehr verschärft. Besonders im Hauptort Appenzell kam es zu grossen Spannungen. Auch auf dem Land gab es Aufsehen erregende Vorfälle. Beispielsweise besetzten etwa hundert Männer das Frauenkloster Wonnenstein bei Teufen und der dort ansässige Kaplan verheiratete sich mit einer der Schwestern. In Gais und Teufen kam es im Februar 1525 zu einem Bildersturm.

 

Progressive Appenzeller

Die Regierung wollte weiteren Unruhen entgegenwirken. Und so wurde an der Landsgemeinde vom 30. April ein Antrag von Josef Schumacher aus Hundwil gutgeheissen. Von nun an sollten die einzelnen Kirchhören entscheiden, ob sie altgläubig bleiben oder sich der Reformation anschlossen. Zudem durfte jede Kirchhöri ihren Pfarrer selbst wählen, ein damals schier unglaublich progressiver Schritt. Minderheiten war es ausdrücklich erlaubt, auswärts Gottesdienste zu besuchen. Die Einführung dieses Kirchhöri-Prinzips war in gewisser Weise der Vorläufer der Glaubensfreiheit, wie sie erst 1848 in der Bundesverfassung garantiert wurde, und erlaubte dem Land Appenzell eine Existenz als paritätisches Staatswesen bis neue politische Entwicklungen 1597 zur Landteilung führten. Auch diese war in der damaligen politischen Landschaft ein einzigartiger und zukunftsweisender Vorgang.

 

 

[1] Ebenda.

[2] zitiert nach Fuchs.

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