Die ehemalige Mesmerin erzählt

Turmgeschichten

von Judith Husistein
min
01.04.2024
Egal wohin man reist. Meist grüssen Kirchtürme schon von weitem und geben einem Dorf oder einer Stadt einen besonderen Charakter. Auch in unserem Kanton finden wir ganz unterschiedliche Kirchtürme. Als Mesmerin teilte die Autorin viele Erlebnisse mit grossen und kleinen Kirchturmbesuchern.
Der Stundenschlag unter der grössten Glocke war körperlich zu spüren. | Foto: jh

Der Stundenschlag unter der grössten Glocke war körperlich zu spüren. | Foto: jh

Die Kirche in Stein mit ihrer harmonischen Form, dem perfekten Grundriss und dem filigran wirkenden Spitzhelm auf dem Turm ist für mich eine der schönsten und untrennbar mit dem Gefühl von Heimat verbunden. Es ist seit ihrem Bau vor 275 Jahren die Kirche, in der die wichtigen Lebensereignisse meiner Vorfahren stattfanden. Hier heirateten meine Eltern und diese Glocken läuteten bei ihrem Abschied. Taufen, Konfirmationen und Hochzeiten hat unsere Familie in dieser Kirche gefeiert.

 

Eine Entdeckungsreise

Doch erst als Mesmerin stieg ich zum ersten Mal die Turmtreppen mit den ausgetretenen Stufen hoch bis ganz nach oben in den Glockenstuhl. Staunend entdeckte ich immer neue Details, bewunderte den hölzernen Dachstuhl, der seit bald dreihundert Jahren jedem Sturm standhält, die dicken Mauern und die vier reichverzierten Glocken. Und irgendwann entdeckte ich auf den Holzbalken etliche mit Bleistift geschriebene Namen und Jahreszahlen, mit denen Handwerker sich in der Kirche verewigt hatten. Es war wie ein Blick in die Vergangenheit. Ich stellte mir vor, welch schwere Arbeit in diesem Bau steckt und mit wieviel Freude und Stolz das fertige Werk alle Beteiligten erfüllte. 

 

 

Glockenklang spüren

Dieses Erlebnis durfte ich später mit vielen Schulkindern teilen. Die staunenden Kinderaugen, das grosse Interesse und die Ehrfurcht, mit denen Mädchen und Buben den Kirchturm bestiegen, war beeindruckend. Gerne ermunterte ich die Kinder, nach dem Stundenschlag unter die grösste Glocke zu stehen, um zu spüren, dass der Klang nicht nur hörbar, sondern als Schwingung auch körperlich noch lange fühlbar ist. Manche genossen die Aussicht durch die schmalen Fensternischen, den Blick in die Tiefe. Andere blieben in sicherer Distanz oder suchten eine Hand zum Festhalten. Technisch interessierte Kinder blieben staunend vor dem grossen Schrank mit den vielen Zahnrädern, Stangen, Ketten und Gewichtssteinen stehen, die früher das Uhrwerk und die Glocken steuerten. Eine kleine Schülerin hatte einen Fotoapparat dabei. Ihr Vater erzählte später, dass sie 120 Fotos gemacht habe und so viel erzählen wollte, dass sie kaum Zeit zum Essen gehabt habe.

 

Läuterbub und Holzträgerin

Beeindruckt haben mich auch Erzählungen älterer Leute, die zum Kirchturm eine besondere Beziehung hatten. Mit Stolz berichtete ein Senior, dass er als Jugendlicher ein «Läuterbub» war. Sonntags, an Beerdigungen und Hochzeiten durfte er zusammen mit dem Kirchenmesmer und zwei weiteren Buben durch Ziehen von langen Lederriemen die Glocken läuten. Da er weit weg vom Dorf wohnte, bekam er sogar ein Velo, um den Weg leichter zu bewältigen. Als Lohn wurden die Läuterbuben am Jahresende vom Kirchenmesmer zu einem Cervelat mit Brot eingeladen und bekamen einen Fünfliber. Und die betagte Tochter des langjährigen Mesmers berichtete, dass die Kirche früher mit Holz geheizt wurde. In ihrer Kindheit trug sie zusammen mit den Geschwistern jeweils im Frühjahr grosse Mengen «Böscheli» über die schmalen, steilen Turmtreppen in den grossen Estrich über dem Chorraum der Kirche. Dort trocknete das Holz und musste im Winter von den Kindern in den Heizkeller gebracht werden, damit der Vater für eine warme Kirche sorgen konnte.

 

Neue Kirchturmgeschichten

Am 22. und 23. Juni steht der Steiner Kirchturm ganz im Zeichen des Reformationsjubiläums. Ich bin überzeugt, dass an diesen Tagen neue Kirchturmgeschichten geschrieben werden und sich viele Gäste der Faszination des Bauwerks nicht entziehen können. 

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