Ein respektvolles Gespräch

Frieden üben

von Annette Spitzenberg
min
24.01.2024
Vertreter:innen des «Runden Tisches der Religionen St.Gallen und Umgebung» äussern sich zum Thema Frieden.

Wie geht es Ihnen gerade? 

Christiane Schubert: Gut. Ich bin gesund und habe liebevolle Menschen um mich herum. Natürlich weiss ich, dass es anderen gerade nicht gut geht oder sie sogar sehr verzweifelt sind. Damit fühle ich mich ohnmächtig, traurig und auch verzweifelt.

Shlomo Tikochinski: Es ist klar, dass die israelisch-palästinensischen Fragen meine Befindlichkeit überschatten. Als Israeli bin ich emotional involviert; in diesen Zeiten habe ich keine Ruhe. Ich fühle mich heute schlecht, traurig und schwierig.

Eya Takrouni: Wir haben eine sehr aufregende Zeit. Es braucht Geduld und Liebe. Diese Liebe suche ich stets bei Gott, der die Quelle der ewigen Liebe ist. Daher antworten wir auf diese Frage stets mit «elhamdulillah», was «Gott sei Dank» bedeutet. Gott sei Dank für diese aufregende Zeit und für seine Liebe in Zeiten wie diesen.

Wie würden Sie Frieden beschreiben oder definieren? 

Christiane Schubert: Keine Angst haben. Nachts schlafen können. Genug zu essen und zu trinken haben. Ein Sehnsuchts-Wort: Etwas, von dem wir immer nur einen Teil haben, was wir manchmal nicht mehr für möglich halten und uns doch immer wieder dafür einsetzen.

Shlomo Tikochinski: Wenn wir uns gezwungen fühlen, zu einer Religion oder einem Volk zu gehören, sollen wir danach streben, ohne Ausschließlichkeit oder Vorrechte dazuzugehören. Dann gibt es kein «wir drinnen» und «sie draußen», sondern ich und meine Gemeinschaft werden der anderen Gruppe dienen und uns für ihre Rechte einsetzen.

Eya Takrouni: Frieden ist das Gefühl, das man hat, wenn man tief einatmet, den Atmen für ein paar Sekunden hält, und wieder tief ausatmet. Es ist die innere Ruhe, der innere Friede. Friede mit sich selbst ist auch Friede mit seinen Mitmenschen. Liebe ist das Stichwort.

Welche Friedensvisionen entwirft Ihre Religion? 

Shlomo Tikochinski: Das Thema Frieden wird in der Tora 111 mal erwähnt. Und im Talmud und in den Midraschim in Hunderten weiteren Zitaten und Friedenspredigten. In jedem Gebet, sowohl an Wochentagen als auch am Schabbat, beten wir für den Frieden in der Welt. Das berühmte Kaddisch-Gebet endet mit dem Satz: «Wer Frieden stiftet in der Höhe, der wird Frieden mit uns machen.» Frieden auf Hebräisch ist SCHALOM. Und das ist einer der Gottes-Namen!

Eya Takrouni: Der Koran ist in Arabisch verfasst und die arabischen Wörter folgen alle einer Stammgruppe. Zum Beispiel ist der Wortstamm von Islam/Muslim «sīn-lām-mīm», das Wort Salem hat den gleichen Wortstamm. Salem bedeutet Frieden und wird auch als Begrüssung benutzt, sehr ähnlich zu Shalom. Der Begriff Islam bezeichnet eine friedvolle Hingabe in Gott und in Frieden mit Gott, Mitmenschen und Umwelt. Der Islam bedeutet vom Wortstamm her auch Frieden. In semitischen Sprachen wie Hebräisch und Arabisch wird der Frieden nicht nur als Abwesenheit von Konflikten verstanden, sondern auch als Wohlbefinden. Es gibt mehrere Verse im Koran, welche auf den Frieden in allen Formen weisen; Frieden mit seinen Mitmenschen, mit sich selbst, mit der Umwelt und mit Gott. Grundziel für jede Streitigkeiten ist der Frieden, «… denn Versöhnung ist das Beste» (Koran 4:128).

Welche wichtigen Friedensstifter:innen gab oder gibt es in Ihrer Religion? 

Christiane Schubert: Ich denke spontan an viele Menschen, die keinen berühmten Namen haben: Meine Eltern, meine Gruppenleiterinnen, unser Jugend-Pfarrer, … Menschen, die für mich die Friedens-Vision stückweise Realität werden liessen und mich gelehrt haben, mich dafür einzusetzen.

Eya Takrouni: Die Propheten werden als Friedenstifter betrachtet. Der Koran erzählt von allen Propheten, wobei Prophet Muhammed als der letzte gilt. Die Überlieferungen berichten davon, wie sie sich als Friedensstifter engagierten:

  • Prophet Moses schuf Frieden, indem er die Israeliten aus der Sklaverei befreite und ethische Gebote lehrte.
  • Prophet Jesus beförderte Frieden, indem er die Lehren der Liebe und Versöhnung predigte.
  • Prophet Muhammed wirkte als Friedensstifter, indem er ethische Grundsätze lehrte und die Versöhnung zwischen den Stämmen auf der arabischen Halbinsel förderte.

 

Eya Takrouni vor der Ka'abah in Mekka, der heiligsten Stadt im Islam. Die Ka'abah, auch als Würfel bekannt, wird von Muslimen weltweit als das Zentrum ihrer spirituellen Verehrung betrachtet. Der Frieden bezieht sich auf die spirituelle Ruhe und Einheit, die Gläubige durch die Umrah oder Hadsch (Pilgerfahrt) anstreben. Für mich ist es ein sehr berührender Ort, an dem viele Nationen zusammenkommen, gemeinsam beten und miteinander weinen. Egal, wie viele Kilometer jeder zurückgelegt hat, alle kommen für Gott, für innere Ruhe und inneren Frieden.

Foto: Eya Takrouni

In der Region, in welcher alle drei abrahamitischen Religionen Heiligtümer haben, herrscht Krieg. In einem Artikel der Zeitschrift Saiten (12/23) habe ich gelesen, dass Sie, Herr Tikochinski, zusammen mit Eya Takrouni die erste Koransure al-Fatih rezitiert haben. Erzählen Sie uns mehr über dieses Zeichen. Was hat es bei Ihnen allen ausgelöst? 

Shlomo Tikochinski: Meiner Meinung nach geschieht Frieden im Stillen. Nicht laut. Wenn ich mit einer Person eins zu eins zusammen bin, sehe ich sie nur als Person, ich betrachte sie nicht als Teil einer Gruppe. Ich habe also ein Gefühl von Frieden und Brüderlichkeit mit ihr in meinem Herzen, das verbindet mich auf Anhieb mit den Menschen.

Eya Takrouni: Für mich war das ein sehr berührender Moment. Ich glaube daran, dass die Liebe die höchste zwischenmenschliche Instanz ist, und die Liebe hat man gespürt. Es war ein Moment der Einigkeit. Wir leiden und finden uns wieder in den Religionen, die uns alle als Geschwistern verbindet. Alle abrahamischen Religionen verbindet derselbe Gott.

Erzählen Sie uns davon, wie Sie aktuell am runden Tisch der Religionen miteinander umgehen, diskutieren, im Dialog bleiben. 

Christiane Schubert: Ich war dabei, wie Shlomo und Eya gemeinsam ein Gebet auf Arabisch rezitiert haben beim ersten Treffen des Vorstands des «Runden Tisches» nach dem 7. Oktober. Das hat mich sehr berührt. Es war eine spontane Idee am Schluss des Treffens, welches wir ähnlich begonnen hatten: Wir hatten nacheinander, jede und jeder in ihrer/seiner Tradition für den Frieden gebetet und uns dafür viel Zeit genommen. Nach den Friedensgebeten gab es einen intensiven Austausch, der geprägt war dadurch, dass wir einander gut zugehört haben und uns selbst mit unseren Gefühlen und Fragen nicht versteckt haben. Mir hat dieses Treffen gezeigt, wie freundschaftlich und zugewandt wir miteinander im «Runden Tisch» verbunden sind.

Die Liebe ist die höchste zwischenmenschliche Instanz.

Eingang zur Synagoge auf dem roten Platz in St.Gallen

Foto: as

Sowohl Antisemitismus als auch antimuslimischer Rassismus nehmen aktuell auch in der Schweiz zu. Was können wir alle dazu beitragen, um dem entgegenzuwirken? 

Shlomo Tikochinski: Die Ursachen und der historische Hintergrund der beiden Phänomene sind unterschiedlich. Doch wenn ein Mensch als Individuum betrachtet wird, gibt es keinen Platz für solche Phänomene.

Eya Takrouni: Wir können die Religionen selbst benutzen. Es gibt zahlreiche Verse in den heiligen Schriften, die zum Frieden mahnen, zur Einigkeit motivieren und uns daran erinnern, dass wir Geschwister sind. Organisationen wie der «Runde Tisch der Religionen» setzen ein Zeichen, dass ein Zusammenleben möglich ist. Die Geschichte zeigt uns Zeiten, in denen ein friedliches Zusammenleben existierte.

Christiane Schubert: Stellung beziehen, wenn Menschen aufgrund ihrer Religion beleidigt oder bedroht werden. Differenzieren, auch wenn es mühsam ist.

Yael Treidel von women wage peace hat in einem Interview gesagt, man müsse nicht Partei ergreifen für die eine oder andere Seite, sondern beide umarmen mit ihren Traumata. Ist das möglich? Was denken Sie dazu? 

Shlomo Tikochinski: Es ist schwierig, diese Frage in dieser schwierigen Zeit zu beantworten, in der der Nahe Osten blutet. Ich will nicht pessimistisch klingen, aber viele Friedensgespräche vor dem 7. Oktober haben sich nach dem 7. Oktober komplett verändert.

Eya Takrouni: Frieden zu finden erfordert eine tiefe Bereitschaft über den eigenen Horizont hinauszublicken. Es bedeutet, sich bewusst zu machen, dass die Realität und das Leiden anderer Menschen unterschiedlich sein können, und dennoch verdienen sie Anerkennung und Respekt. Der Schlüssel liegt in der Fähigkeit, Empathie zu entwickeln, indem man versucht, die Welt aus den Augen anderer zu sehen. Die Anerkennung von Leid ist nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung zu allen Handlungen oder Meinungen. Es geht darum, die menschliche Erfahrung zu verstehen und anzuerkennen. Dadurch können Brücken des Verständnisses gebaut werden, die wiederum den Weg zu Dialog, Kompromiss und letztendlich Frieden ebnen.

Christiane Schubert: Ja, ich glaube, dass das möglich ist. Aber es braucht mehr Zeit als schnell ein Urteil zu fällen. Mich beeindrucken die vielen Friedensinitiativen direkt in Israel/Palästina. Ich durfte einige von ihnen kennenlernen, als ich in Jerusalem gelebt habe. Meine Hoffnung auf Frieden speist sich aus dem, was ich dort erfahren habe.

Wenn ein Mensch als Individuum betrachtet wird, gibt es keinen Platz für Rassismus.

Wie finden Sie selbst inneren Frieden? 

Shlomo Tikochinski: Wie bei jedem Menschen gibt es auch bei mir unterschiedliche und manchmal widersprüchliche Seiten. Wenn ich meditiere und zu höheren Orten in meiner Seele aufsteige, verschwinden viele der Widersprüche plötzlich.

Eya Takrouni: Das Gebet spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben; es ist für mich wie ein täglicher Kontakt mit der Liebe selbst. Es erfordert, den Fokus auf sich selbst zu richten, tief ein und auszuatmen und Gott von allem zu erzählen, was sich im Kopf befindet, im Bewusstsein, dass dies an einem sicheren Ort geschieht.

Christiane Schubert: Es gibt nichts Faszinierenderes als zu sein.

Wie hängt innerer Frieden zusammen mit dem Frieden mit den Mitmenschen und mit Gott? 

Shlomo Tikochinski: Unser «Alleinsein» prägt unser Miteinander, das heißt, wir müssen lernen, Widersprüche und Gegensätze in uns zu auszuhalten. Menschliche Vielfalt ist notwendig. Wenn alle genau gleich wären, wäre die Welt langweilig.

Eya Takrouni: Innerer Frieden führt dazu, mit Empathie, Gelassenheit und Respekt auf die Mitmenschen zuzugehen. Die innere Ruhe ermöglicht eine konstruktive Bewältigung von Konflikten. Die Praxis spiritueller Disziplinen und die Einbettung von göttlicher Werten wie Liebe, Mitgefühl und Vergebung fördern einen friedlichen Lebensstil.

Christiane Schubert: Die Überzeugung, dass wir als Menschen von Gott gewollt und geliebt sind, prägt meinen Blick auf mich selbst und auf die Menschen um mich herum.

Zum Schluss: welches ist Ihr liebstes Bild für Frieden?

Eya Takrouni: Bilder von freien Vögeln.

Shlomo Tikochinski: Wir alle kennen alle Arten von historischen Bildern, aber meiner Meinung nach haben sie keinen Wert. Der Friede ist göttlich, er ist der Seele innewohnend, und wie Gott hat er keine Statue und kein Bild.

Mit meiner Unterschrift segne ich alle mit diesem Vers (Bamidbar/4 Mose 6, 26)

Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

 

 

Der "Runde Tisch der Religionen St.Gallen und Umgebung" wurde 2007 als Verein gegründet. Die Interessegruppe besteht jedoch seit 1999.

2005 verabschiedete die Gruppe die «St.Galler Erklärung für das Zusammenleben der Religionen». Diese war auch der Startpunkt der seither jährlichen, interreligiösen Bettagsfeier auf dem Klosterplatz. Die Interviewpartner sind Vertreter:innen der abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Alle drei Religionen leiten sich vom Stammvater des Glaubens, Abraham, wörtlich Vater vieler Völker, und der Stammmutter Sara, wörtlich Fürstin, her.

Der interreligiöse Dialog – weltweit und auch in der Ostschweiz – ist dem "Runden Tisch der Religionen " ein Herzensanliegen. | Foto: rtdr.ch

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