Der Schrei
Mein Job als Akademiker ist das Forschen, das Einordnen, das Erklären. Ich habe in den letzten Tagen seit dem Massaker der Hamas im Süden Israels mit vielen Medienanfragen aus der Schweiz zu tun gehabt, da ich zugleich Professor an der Uni Basel bin, den Anfang des Krieges aber in Israel erlebt habe, wo ich auch diese Zeilen schreibe. Man erhoffte von mir also fachliches Insiderwissen wie auch Erfahrungsberichte. Ich habe mich nach Kräften darum bemüht, die Fragen meiner Gesprächspartner zu beantworten, Hintergründe zu liefern, Einschätzungen zu geben. Wie gesagt, das ist mein Job.
Dann schaue ich wieder die neuesten Meldungen an. Lese Augenzeugenberichte, Appelle der Angehörigen von Geiseln. Sehe, wie in Europa eine dunkle Wolke des Judenhasses aufzieht, der sich notdürftig das Mäntelchen von Solidarität mit einem Volk anzieht, das von eben jenen, die in dessen Namen morden, in Wahrheit seit vielen Jahren geknechtet und verraten wird.
Wir haben es einmal mehr erlebt: Judenhass ist ein besonderer Hass. Es ist ein Hass, der zu allen Zeiten Mobilisierungskraft besitzt und der rauschhafte Begeisterung erzeugt, «wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt», wie es vor neunzig Jahren die SA im Dritten Reich grölte.
Und mein Job, das Nachforschen, das Einordnen und das Erklären erscheint mir schier unmöglich. Weil es immer nur dasselbe zu sein scheint, das sich wiederholt, fast eine Menschheitsgeschichte lang. Es ist erstaunlich, wie gut die Argumente für diesen Hass in den unterschiedlichen Kontexten immer daherkommen, wie viele Menschen sich jeweils begeistert und entschlossen dahinter versammeln, auch scheinbar ganz Unbeteiligte.
Das Einzige, was mir hierzu noch einfällt, worin ich einstimmen, womit ich mich erklären und meine Meinung kundtun möchte, ist Edvard Munchs ikonisches Bild «Der Schrei». Dem Menschen, der da den Mund aufgerissen hat, ist nichts Forschendes, nichts Einordnendes und nichts Erklärendes eigen. Er denkt an keine Zukunft, die es zu gestalten gilt, an keine Lösungen, die anzudenken sind. Er hat nur diesen Augenblick, es ist der ehrlichste, der fürchterlichste Moment der Erkenntnis, der sich durch keine hoffnungsvollen Konzepte, durch keine messianischen Träumereien einfangen oder einlullen lässt.
Der Moment wird kommen, in dem ich zurückkehre zu meinem Metier, in dem ich forsche, einordne und erkläre. Aber jetzt, dazu eingeladen, meine Eindrücke über das, was sich abspielt, mitzuteilen, kann ich nur diesen einen markerschütternd stummen Schrei äussern.
Alfred Bodenheimer
Alfred Bodenheimer ist ein Schweizer Literaturwissenschaftler und Autor. Er ist Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel. Neben Fachbüchern veröffentlichte er mehrere Kriminalromane. Er lebt in Israel und in der Schweiz.
Der Schrei