Randständigkeit trägt viele Merkmale

An den Rand kommen

von Heinz Mauch-Züger
min
11.11.2023
Es gibt eine Randständigkeit, die unabhängig von der gesellschaftlichen Einbettung wirksam werden kann. Und diese Randständigkeit trägt viele Merkmale in sich, die Menschen mit wenig materiellem Spielraum als Alltag erfahren. Isolation, Ausgeschlossensein, Minderwert.

Komfortzone gefährdet

Unser gutorganisiertes gesellschaftliches System verspricht ein weitgehend gesichertes Leben. Mit einer guten Ausbildung und stetiger Weiterbildung bieten sich viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Vieles erscheint selbstverständlich. Einkaufsmöglichkeiten, Mobilität, finanzielle Absicherung, Gesundheitsversorgung – alles da. Dass es wenig braucht, damit diese Gewissheit erschüttert wird, braucht einem nicht gross zu kümmern – bis es passiert.

Da sind diese Sekundenbruchteile der Unaufmerksamkeit und schon kracht der Wagen in das Heck des voranfahrenden Autos. Da ist diese neue Chefin, die mit ihren Bemerkungen durchblicken lässt, dass man nicht wirklich genügt. Da sind die Arbeitskollegen und -kolleginnen, die plötzlich leiser werden, wenn man den Raum betritt. Da ist die neue Arbeitssituation nach der Umstrukturierung, wo nicht mal mehr die Überstunden ausreichen, um die Aufgaben zur Zufriedenheit der Auftraggeber zu erledigen. Da ist die Partnerin, der Partner, die/der immer wortkarger wird und immer weniger Zeit zuhause verbringt. Da sind die Kinder, die seltsam aggressiv oder passiv reagieren, wenn man etwas von ihnen möchte.

Randerfahrungen sind unabhängig von Wohlstand, Ausbildung und Tätigkeit.

Randerfahrungen

Die Erfahrung, mit dem, was man bisher getan hat, nicht mehr zu genügen, schlägt unvermeidlich um in eine fundamentale Verunsicherung. Wer nicht über einen ausserordentlich dicken Gefühlspanzer verfügt, gerät in einen Strudel der Infragestellung seiner selbst. Je nach Charakter beginnt dann das «Reiss-dich-Zusammen-Programm» zu laufen oder es stellen sich relativ rasch körperliche Symptome wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Unkonzentriertheit ein. Die eigene Fehlerquote erhöht sich, der Ärger über sich selbst nimmt zu. Oder man verfällt schon früh in eine Passivität, wo nur noch das Notwendige gemacht wird. Die Belastbarkeit schmilzt dahin, es braucht immer mehr Energie, gestellte Aufgaben zu erledigen oder am Morgen aus dem Bett zu kommen. Diese Randerfahrungen sind unabhängig vom materiellen Wohlstand, sie sind unabhängig von Ausbildung und Tätigkeit; sie können jede und jeden treffen. Mitten im Leben wird man randständig.

Gleichgewicht weg

Die unglaublich hohe Informationsdichte mit ständigem Summton im Smartphone und dem Computer, die technologische Beschleunigung der Arbeitsabläufe durch digital optimierte Prozesse, damit man Zeit gewinnt, setzen eine bestimmte Leistungsfähigkeit voraus. Sie verführen jedoch gleichzeitig dazu, die gewonnene Zeit wieder mit Aktivität zu füllen. Das funktioniert alles hervorragend bis an einen bestimmten Punkt. Und dieser Kipppunkt muss nicht in einem selbst liegen. Er kann sich von aussen als Störung, Beeinträchtigung, Infragestellung, Überforderung in den eigenen Alltag schieben und das Gleichgewicht aus der scheinbar so stabilen Mitte an den Rand verschieben, wo immer weniger bis irgendwann gar nichts mehr geht.

Die Mitte ist ein Wir - kein Ich.

Gleichgewicht erhalten

Was ist eigentlich diese Mitte? Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben sich zig Angebote entwickelt, die dafür sorgen sollen, dass man persönlich nicht an den Rand gerät: Yoga, Meditation, Atemtechniken, Massagen, Essensumstellungen, Bewegungsaktivitäten, Wellnessangebote. Alles gute Dinge, doch werden sie zu Verstärkern der Randerfahrung, wenn man sie einfach konsumiert, damit man wieder funktioniert.

Gleichgewicht basiert auf Vertrauen. Auf Selbstvertrauen, auf Lebensvertrauen, auf Fremdvertrauen. Wird eines dieser Vertrauen beschädigt, kommt rasch der Rand. Der Weg weg davon ist lang. Professionelle Unterstützung ist angebracht, ein ermutigendes, geduldiges Umfeld ohne falsches Mitleid ist essenziell. Die Mitte ist ein Wir – kein Ich.

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